No-Mind versus Integral-Mind

erschienen in der Zeitschrift „Connection Spirit“ Ausgabe Januar/Februar 2013 (hier veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung des Herausgebers Wolf Schneider- hier geht es zur Website der Connection)


No-Mind versus Integral-Mind

Als Einleitung zu seiner Grafik von Wilbers Vier-Quadranten-Modell auf der folgenden Doppelseite weist Torsten Brügge nicht nur auf die Vorzüge des integralen Modells hin, sondern auch auf die Gefahren, die der Umgang damit bringen kann

Von Torsten Brügge

Es gibt verschiedene Phasen der Selbst-Erkenntnis. Zum einen geschieht dabei immer wieder Hingabe an das Nicht-Wissen. Der Geist sinkt in Stille, und alle begriffliche Gedankenaktivität kommt zum Erliegen. In dieser Tiefe sind philosophische Reflektionen unmöglich und überflüssig. Die reglose Stille ist sich selbst genug. Sie ist pure Bewusstheit, ohne das geringste konkrete Wissen.
Aus dieser Stille heraus kann die Welt der wiederauftauchenden Begriffe auf ganz frische Weise erfahren werden. Dann kann es sein, dass der Geist mit den komplexesten Konzepten spielt, ohne sich darin zu verlieren. Eine gute Philosophie, wie die von Ken Wilber, die ich auf der folgenden Doppelseite in einer Grafik versucht habe zusammenzufassen, erlebe ich als einen solchen intelligenten und scharfsinnigen Ausdruck der Stille.

Sich dem Nicht-Wissen hingeben

Normalerweise gehen wir in folgender Reihenfolge vor: Erst versuchen wir, durch mentales Verstehen spirituelle Erkenntnis zu erlangen und wälzen zu diesem Zweck unzählige Theorien in unserem Kopf. Wir über- und durchdenken alles. Doch unsere Vernunft stößt dabei an Grenzen. Sie kann uns Ahnungen des transpersonalen Raums vermitteln, aber keine Erfahrung davon.
Schließlich wird die Anstrengung des Verstehen-Wollens so schwer, dass dem Suchenden nichts anderes übrig bleibt, als sich dem Nicht-Wissen hinzugeben. Dann offenbart sich innere Stille. Das Denken kommt zur Ruhe und wir erfahren die Präsenz reinen, friedvollen Bewusstseins. Das braucht keinerlei Wissen.

»Glaube nicht alles, was du denkst!«

Irgendwann taucht Denken wieder auf. Jetzt können wir es »nutzen«, ohne uns damit zu identifizieren. Wir haben reines Bewusstsein als tiefste Wahrheit erkannt, deshalb glauben wir nicht mehr, dass Denkgebäude absolute Wahrheit wären. In unseren Seminarräumen hängt eine Postkarte mit dem Spruch: »Glaube nicht alles, was du denkst!«. Ich würde das sokratisch so erweitern: »Ich weiß, dass ich nichts weiß, weil ich nicht glaube, was ich denke«. Diese Haltung schwingt bei mir mit jedem mentalen Philosophieren mit.

Verlockung der »Theorie von Allem«

Die Versuchung liegt darin, dass Wilbers »Theorie von Allem« so gut ist! Besonders wenn man innere Stille noch nicht erfahren hat, kann es leicht sein, dass man mental an dieser Theorie hängen bleibt. Wilber jedoch lädt dazu ein, sich ganz praktisch von der rationalen zur transrationalen Ebene hin zu entwickeln. Von der rationalen Ebene her bleibt das Modell gedankliches Spekulieren. Dann ist es eine Theorie, die wir für Wahrheit halten, gegen die wir Argumente finden oder die wir vielleicht in Teilen akzeptieren. Lassen wir unsere mentalen Kenntnisse aber los, offenbart sich Stille. Aus ihr heraus können wir den integralen Ansatz als die bisher genialste Erklärung der Erscheinungswelt wertschätzten, und zugleich wissen wir, dass es »nur eine Theorie« ist. »Eine Landkarte«, sagen wir im NLP dazu, »ist nicht das Gebiet«.

Spirituelles Lehren vs. Spirituelles Leeren

Für das Loslassen des Mentalen und die lebendige Erfahrung transrationaler Stille können das Zusammensein mit einem spirituellen Lehrer und seine Hinweise hilfreich sein. Bei meiner eigenen Tätigkeit als spiritueller Lehrer bleibt das Wilbersche Modell jedoch eher im Hintergrund. Die meisten Menschen kommen ja schon mit einem Kopf voll von Konzepten. Der muss erstmal entleert werden. Für sie ist es zunächst wichtiger, erstmal die Stille zu kosten.
Für diejenigen aber, die sich auch danach noch weiterentwickeln und die Intelligenz unserer mentalen Kapazitäten in die Erkenntnis mit einbeziehen wollen, ist Wilbers Modell von unschätzbarem Wert.
Gerade was die Prä-Trans-Verwechslung, die Integration verschiedener Erkenntniswege und die spirituellen Krankheiten angeht, hat Wilber wahrhaft Gigantisches geleistet. Ich bin mir sicher, dass er irgendwann als einer der größten Philosophen unserer Zeit in die Geschichte eingehen wird.