Der Erdbeergeschmack von GEIST (ursprünglich „des Absoluten“) – das paradoxe Nebeneinander von Absolutem und Relativem

Heilsames Nebeneinander statt heillosem Durcheinander

In tiefen meditativen Zuständen eröffnen sich uns Qualitäten inneren Erlebens, die mit einer großen inneren Stille und einem reglosen, formlosen Bewusstsein einhergehen. Taucht dann wieder begriffliches Denken und an Formen gebundene Erfahrungen auf, so scheinen diese beiden Erlebensweisen – zumindest in bestimmten Phasen der spirituellen Entwicklung – nahezu unvereinbar. Hier kann es sehr hilfreich sein, wenn spirituelle Sucher – oder Finder – eine Sichtweise kennenlernen, die ein paradoxes Nebeneinander zweier Perspektiven zulässt. Im Buddhismus wird dies „die Lehre der zwei Wahrheiten“ genannt. Dort wird sowohl davor gewarnt, nur eine der beiden Sichtweisen für wahr zu halten, als auch beide undifferenziert in einen Topf zu werfen. Kurz gesagt handelt es sich dabei um das Nebeneinander der unmittelbaren Erfahrung der absoluten Seinsdimension und deren Erleben und Beschreiben auf der relativen Seinsebene. Letztendlich sind auch diese beiden Dimensionen nicht voneinander getrennt, doch fehlt uns auf der Ebene sprachlicher Kommunikation die Bewusstheit für den unterschiedlichen Charakter der beiden Anteile, kommt es zu einem verwirrten sprachlichen Durcheinander und nicht selten zu einem überheblichen Bestehen auf begrenzten Standpunkten.

Zunächst beschreibe ich die „Lehre der zwei Wahrheiten“ anhand einer einfachen Metapher und später – philosophisch differenzierter – auch mit „typisch spirituellen“ Begrifflichkeiten.

Reiner Erdbeergeschmack und Erdbeersprache

Stellen wir uns vor, wie beschäftigen uns mit dem Thema „Wie schmeckt eine Erdbeere?“ Wir können die Erdbeere essen und so ihren köstlichen Geschmack direkt kosten. Oder wir könnten über den Geschmack der Erdbeere sprechen. Beides hat seinen Platz. Im Moment des direkten Schmeckens erlauben wir uns, das gesamte sinnliche Geschmackserlebnis auf uns wirken zu lassen. Dabei genießen wir umso mehr, je weniger wir denken und je mehr wir uns auf die reinen Sinnesempfindungen einlassen. Auch Begrifflichkeiten wie „süß“, „weich“, „fruchtig“ oder „Erdbeergeschmack“ sind im di- rekten Moment des Schmeckens unwichtig. Wir schwelgen einfach in der Köstlichkeit des Aromas.

Ein wahrhaftiger Genießer wird auf die Frage „Wie schmeckt die Erdbeere, die Du gerade ist?“ sagen: „Bitte lass sie mich erstmal wirklich kosten. Darüber reden können wir vielleicht später“. Im Moment des reinen, absoluten Schmeckens verliert sich sogar die Trennung von Schmeckendem und Geschmecktem. Alles ist in diesem Moment der eine, reine ERDBEERGESCHMACK.

Wir können die Erdbeere essen oder wir können über den Geschmack der Erdbeere sprechen.

Wollen wir uns aber über die Qualität der Erdbeere sprachlich austauschen – beispielsweise um sie mit anderen Erdbeeren zu vergleichen oder Menschen, die noch nie eine Erdbeere gekostet haben, neugierig auf den Geschmack zu machen – dann brauchen wir Begrifflichkeiten für unser Erleben. Wir müssen Worte finden: Für das Aussehen der Erdbeere. Für ihren Geruch. Für die Art, wie sie sich anfühlt, wenn wir sie anfassen. Da- für, welche Konsistenz wir spüren, wenn wir von ihr abbeißen und sie zerkauen. Und natürlich für die vielfältigen Geschmacksnuancen, während die weiche Erdbeermasse an unserer Zunge entlang in den Rachen gleitet und dort in der Speiseröhre verschwindet.

Geben wir uns als „Erdbeerexperte“ aus und wollen wir uns mit anderen Erdbeerexperten über Erdbeeren austauschen, macht es Sinn ein sehr differenziertes Begriffssystem für die vielfältigen Elemente der „Erdbeer-Erfahrung“ zu finden. Erst dann können wir den Unterschied einer köstlich vollreifen Bio-Erdebeere und einer halbgrünen, wässrigen, geschmacklosen, in einer künstlichen Nährlösung aufgezogenen Gen-Gewächshaus-Erdbeere erfassen und klar kommunizieren.

Erst Schmecken, dann Sprechen – aber bitte klar

Von einem „echten Erdbeerexperten“ würde ich erwarten, dass er sich mit beiden Aspekten auskennt: Er sollte ein wahrhaftiger Genießer des unmittelbaren Geschmacks sein. Erst so bekommt er einen Zugang zur lebendigen Erfahrung. Das ist unerlässlich. Zugleich sollte der Experte auch sehr genau und differenziert darüber sprechen können, was er schmeckt. Ein Satz wie „Äaahrdbeere,... voll geil, Alter. ... alles andere, voll Scheiße...boooooaaah“ kann auch mal ganz erfrischend wirken, würde mir auf die Dauer aber nicht reichen. Je genauer die Sprache, desto besser kann der Erdbeerexperte andere neugierig machen. Schließlich drückt er ihnen eine Erdbeere in die Hand und sagt: „Das Beste ist, Du probierst mal selber!“

„Das Beste ist, Du probierst mal selber!“

Die Lehre der zwei Wahrheiten

Die „Lehre der zwei Wahrheiten“ besagt etwas ganz ähnliches. Um Missverständnissen vorzubeugen: Spirituell tiefgehende Erfahrungen schmecken nicht nach Erdbeere – oder nur manchmal. Hier passt vielmehr der von Wilber benutzte Begriff des „EINEN GESCHMACKS“. Er besagt, dass wir den Geschmack der Einheit allen Seins in Allem kosten können. Aber auch in Bezug auf diesen „Geschmack“ oder diese tiefste spirituelle Selbsterkenntnis gibt es zwei wichtige Dimensionen:

  1. das unmittelbare Erleben der absoluten, ich-transzendenten, nicht-begrifflichen, formlosen, zeit- und raumlosen, den Verstand überschreitenden Dimension
  2. das Erleben und Reflektieren der relativen, ich-immanenten, begrifflich differenzierten, formhaften, durch Zeit- und Raum-Wahrnehmung gekennzeichneten, den Verstand nutzenden Dimension

BEIDE SIND WICHTIG! BEIDE SIND AUSDRUCK DES EINEN SEINS! (Man kann es gar nicht groß genug schreiben!)

Eine von beiden Dimensionen überzubetonen oder eine von beiden zu vernachlässigen, erzeugt ein dualistisches Verständnis und leidvolles Erleben von Wirklichkeit.

Ein dualistisches Verständnis führt zu einem leidvollen Erleben von Wirklichkeit.

Zeitlos – formlos – reglos – endlos – ichlos

Wenden wir uns beiden Dimensionen noch mal genauer zu. Die absolute Seinsdimension eröffnet sich uns spontan oder auch durch tiefgreifende spirituelle Praxis. Ihre Erfahrung liegt in der Tiefe vor jeder Begrifflichkeit. Hier braucht und gibt es nichts anderes als das eine Bewusstsein (natürlich variieren die Begrifflichkeiten dafür, je nachdem aus welchem spirituellen Kontext heraus man es in Worte fasst). Hier gibt es nichts zu verändern, kein „weiter“ und auch kein „mehr“. Hier ist auch kein „weiteres Erwachen“ oder „tieferes Erforschen“ notwendig oder von Bedeutung. Man könnte tatsächlich sagen, hier wird das Relative völlig irrelevant. Wenn solche Momente der KLAHRHEIT über das Absolute auftauchen, können wir uns erlauben, sie rückhaltlos zu genießen. Wunderbar! Hier spüren wir die Vollkommenheit allen Seins schon in diesem Moment - egal was unser Verstand zuvor als unvollkommen deklariert hat.

Einfachheit der unmittelbaren Erfahrung

Um zu der unmittelbaren Erfahrung dieser absoluten Dimension einzuladen sind oft einfache Begriffe am wirksamsten: Sein. Stille. Selbst (im transpersonalen Sinn). Gewahrsein. Quelle. Urgrund. Buddha-Natur. Tao. Solche Worte können als Fingerzeige auf diese nicht-begriffliche Wahrheit dienen. Manchmal – vor allem, wenn sie von Menschen verwendet, die eine direkte Erfahrung des Absoluten gemacht haben – tragen diese Worte die Kraft in sich, über sich selbst hinaus auf das unmittelbare Erleben des SEINS hinzuweisen. Auch einfache und kraftvolle Kontemplation, im Sinne einer auf direkte Erfahrung ausgerichteten Reflektion, können zur direkten Erfahrung der absoluten Seinsebene führen. Klassisch sind hier Selbst-Erforschungsfragen, wie die von Sri Ramana Maharshi: „Wer oder was bin ich?“ oder „Was ist immer da?“ Auch die die Ermutigung von Sri Nisargadatta beim ICH BIN zu bleiben, anstatt sich in den vielen Identifizierungsgedanken „Ich bin... dieses oder jenes“ zu verlieren. Solche Fragen beginnen zu- nächst auf der mentalen Ebene (denn jede Frage oder Aufforderung ist zunächst nur ein Gedanke). Doch ist bei einem Menschen eine gewisse spirituelle Reife vorhanden, geht die Frage tiefer und bewirkt eine Umorientierung der Aufmerksamkeit. Sie führt von den gewohnten Erfahrungs-Objekten wie Gedanken, Empfindungen und Gefühlen weg und hin zu dem Urgrund transpersonalen Gewahrseins.

Auch andere spirituellen Traditionen zielen manchmal auf die direkte Erfahrung von nicht-begrifflicher innerer Stille. Die vom gewohnheitsmäßigen Verstandesdenken nicht zu lösenden buddhistischen Zen-Koans, lassen unser gewohntes Denken kollabieren und in befreiende Stille sinken. Die Ermunterung zum Anfänger-Geist bzw. zum Einlassen auf das Nicht-Wissen, stellen weitere direkte Zugänge da. Sie laden uns dazu ein die Enge unseres vermeintlichen Wissens zurückzulassen und die Intelligenz formlosen, reinen Gewahrseins durchscheinen zu lassen. Die taostische Mystik ermuntert mit ihrer Haltung des WuWei (des Nicht-Tuns oder Nicht-Einmischens) die Aspekte des Absoluten zu entdecken, die sich auf das Thema „Handeln“ beziehen. Hier können wir erfahren, das alles Geschehen „von alleine geschieht“ oder quasi aus dem Absoluten he- raus kommt. Das Konzept eines eigenmächtig handelnden Ichs ist von einem absoluten Standpunkt aus pure Illusion. Und natürlich verweist uns auch die christliche Mystik oft sehr direkt auf das Absolute. Wenn Jesus z.B. sagt: „Bevor Abraham bin Ich“ und „Das Himmelreich ist inwendig in Euch“, spricht er damit die zugleich zeitlose und jederzeit zugängliche Gegenwart des Göttlichen an.

Worte können als Fingerzeige auf diese nicht-begriffliche Wahrheit dienen.

Segen und Fluch der absoluten Betonung

Die Ausrichtung auf und die Betonung der unmittelbaren Erfahrung des Absoluten können sehr heilsam wirken. Sie erlauben eine radikale Abwendung von unseren Verstrickungen im Relativen. Sie ermöglichen eine wichtige De-Identifikation von eingeschränkten persönlichen Identifikationsmustern. Sie machen die zeitlose und allgegenwärtige Qualität des Seinsgrundes bewusst. Sie führen zur Erkenntnis unseres wahren Selbst, das vollkommen losgelöst von allen persönlichen Identitäten als reglose und unangetastete Stille besteht. Zugleich entlastet eine solche Perspektive von destruktiven Schuldgefühlen, die aus der Idee eines eigenverantwortlichen Ichs, das moralische Verfehlungen begehen könnte, entstehen.

Bei manchen Lehren und Lehrern kommt es allerdings auch zu einer pathologischen Überbetonung der absoluten Seinsebene. Anstatt den Wert des Absoluten zu schätzen UND alles Relative als Ausstrahlung des absoluten Urgrundes zu erkennen, wird die Welt der relativen Erscheinungen abgespalten und abgewertet. In diesem Fall kippt die gesunde De-Identifikation von der persönliche Identität in eine pathologische Dissoziation derselben. Die noch in der Person stattfindenden psychodynamischen Prozesse werden als bloße Erscheinungen relativiert und nicht aufrichtig angeschaut. Schattenanteile wie persönlicher Minderwert, Todesangst oder Zorn werden ausgeblendet. Zugleich werden sie unbewusst ausagiert und führen zu Überheblichkeit, Kaltherzigkeit oder gar missbräuchlichem Verhalten.

Schattenanteile wie persönlicher Minderwert, Todesangst oder Zorn werden ausgeblendet.

Spirituelle Verleugnung – subtiler Dualismus – Arroganz des Absoluten – dumpfe Anti-Intellektualität

Häufig findet man bei der Überbetonung des Absoluten auch eine Art „Anti-Intellektualität“. Die Aktivität des Verstandes wird nicht transzendiert UND integriert, sondern transzendiert und abgespalten. Dann werden die Errungenschaften des Denkens und die Möglichkeiten eines differenzierten Verstehens vielleicht als „bloßes Geschwafel“ abgetan, anstatt das Paradox von Nicht-Wissen und Weisheit, von nicht-begrifflicher Stille und differenzierter Benutzung von Begrifflichkeiten für eine sich stetig weitende Weisheit zu nutzen.

Eine Überbetonung der absoluten Seinsdimension ist dann keineswegs Ausdruck nondualer Erkenntnis, sondern erzeugt eine neue Dualität zwischen Absolutem und Relativem, zwischen Seinsgrund und Erscheinungswelt, zwischen regloser Stille und bewegtem Geist.

(In unserem Vortrag auf dem „Berlin Kongress Forum Erleuchtung“ 2012 sprachen meine Partnerin Padma Wolff und ich über diese „Advaita-Falle“, deren Auswirkungen wir dort als „spirituelle Verleugnung“, „Arroganz des Absoluten“ und „Subtiler Dualismus“ betitelten. Von diesem Vortrag gibt es eine Videoaufzeichnung auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=f4w2j8otYjc

Die „Arroganz des Absoluten“.

Alles Relative vollständig umarmen

Die Lösung für diese pathologische Ausuferung des Absoluten besteht in einer allumfassenden Umarmung der relativen Seinsebene.

Die relative Ebene zeichnet sich durch die Wahrnehmung von Formen und komplexen Unterschieden aus. Diese Vielfältigkeit trägt ihre eigene Schönheit in sich. Hier gibt es ein Ich und ein Du, ein dies und das, ein mehr und ein weniger, Zukunft und Vergangenheit, Entwicklung in der Zeit, eine Möglichkeit aktiven Tuns. Aus der absoluten Pers- pektive vermitteln sich alle Erfahrungselemente der relativen Ebene durch die Begrifflichkeiten unseres Verstandes. Und das ist wahr! Deshalb ist – absolut gesehen - jede relative Erscheinung bedeutungslos und nichtig, eben weil die Qualität jedes Begriffes letztendlich leer und substanzlos ist.

Zugleich hat die Welt der Begrifflichkeiten eine ungeheure Bedeutung und ist enorm wichtig. Denn sobald wir aus der Versenkung der unmittelbaren Erfahrung des Absoluten auftauchen und auch nur ein Wort über die Eigenschaften unsere Erfahrung (oder besser über die Eigenschaftslosigkeit unser Nicht-Erfahrung) denken oder hauchen wollen, bewegt sich unser Geist in die Welt des Relativen. Dann sind wir gezwungen Begriffe zu benutzen. Und hier wird es verdammt wichtig, mit welcher Klarheit wir das tun. Denn die Deutungen, die uns die begriffliche Reflektion der Wirklichkeit und auch von ihrer spirituellen Dimension eröffnen, unterscheiden sich massiv. Hier gibt es gewichtige Unterschiede zwischen engen, begrenzten oder gar widersinnigen und weiten, umfassenden und schlüssigen Deutungen. Hier gibt es Deutungen und Perspektiven, die wir eher den archaischen, magisch, mythischen Zeiten unserer Menschheitsgeschichte zurechnen müssen oder den aufgeklärten, rationalen oder gar integralen, trans-rationalen Evolutionsstufen zuschreiben dürfen. (Und natürlich gibt es hier eine Menge weiterer Zwischenstufen -> siehe Integrales Modell).

Das Totschlag-Argument „Man kann über Wahrheit sowieso nicht sprechen oder sie gar verstehen“ ist auf der relativen Ebene eher ein Ausdruck von dumpfer Anti-Intellektualität als eines offenen und forschenden Geistes, der sowohl seinen nicht-begrifflichen Urgrund kennt, als auch die Herausforderung annimmt, sich in der relativen Welt möglichst klar und umfassend auf das Abenteuer einer stetig weitenden spirituellen Selbst- und Welt-Erkenntnis einzulassen.

Totschlag-Argumente als Ausdruck dumpfer Anti-Intellektualität.

Klare Sprache über das Unsagbare

Noch einmal in anderen Worten: Auch „nach“ tiefen Einblicken in das Absolute taucht das Erleben der relativen Welt mit ihren Formen, Begrifflichkeiten und menschlichen Aspekten auf ein großes Potential von Weitung, Vertiefung und vertieftem oder erweitertem Erwachen. In mir selbst und bei anderen habe ich oft beobachtet, wie Einblicke in die KLARHEIT DES EINEN SEINS, schnell wieder zum Konzept gemacht wurden. Dann scheinen es Erfahrungen zu sein, die in der Vergangenheit gemacht wurde und an die wir uns bloß noch erinnern und die dann noch in mentalen Worthülsen (z.B. Advaita- Floskeln wie „Es gibt kein Ich“ „Alles ist Illusion“) wiederholt werden, anstatt DAS aus dem Moment heraus vollkommen frisch zu erfahren.

Nicht selten werden solche Konzepte dann benutzt, um sich in menschlicher Begegnung vor Unsicherheit und Schmerz abzusichern oder sich über Aspekte existentiellen menschlichen Leidens zu stellen. Die Arroganz und Weltfremdheit, die sich daraus ergeben, würde ich dann nicht mehr „erwacht“ oder „erleuchtet“ nennen mögen, sondern „im Absoluten eingeschlafen“. Auf der relativen Ebene ist Aufrichtigkeit und die Bereitwilligkeit zur klaren Selbstreflexion der immer noch im Leiden gefangenen Persönlichkeitsanteile – gerade der Anteile, mit denen wir unser „Erwachen“ konzeptuell missbrauchen – unbedingt erforderlich! Von hier aus ist eine Aussage wie „es braucht keine Weiterentwicklung“ eher eine Verwechslung der absoluten mit der relativen Perspektive und nicht selten ein „Festhalten am Absoluten“.

Kein anderes System, wie das von Wilber, zeigt diese spirituellen Fallen und Stolpersteine so klar auf. Das schöne ist, dass Wilber selbst tiefgreifende, direkte Erfahrungen der absoluten Seinsebene gemacht hat (Denjenigen Lesern, die die „absolute Seite“ von Wilber besonders interessiert, empfehle ich den Artikel „Fünf Gründe, warum wir nicht erleuchtet sind“ in der Ausgabe 41 von „integral informiert“). Zugleich versucht er mit dem Integralen Modell auf der begrifflichen Ebene eine möglichst klare Sprache über Spiritualität zu ermöglichen, die die Missverständnisse einer simplifizierenden Relativ-Absolut-Einseitigkeit aufzeigt.

Es mag sein, dass Wilbers System und Haltung dann manchmal wieder zu sehr in die Betonung einer eher anstrengenden Weiterentwicklung auf der relativen Ebene und überhöhten Idealen des Erwachens kippt. Zu Zeiten habe ich durchaus auch so einen Eindruck. Da kann ich Kritiker des Modells durchaus nachvollziehen. Auf der anderen Seite gibt es mittlerweile viele „Lehrer“ und „Lehren“, die „Weiterentwicklung“ zu früh abhaken und sich mit Krumen von Klarheit des Absoluten begnügen, während noch Festmähler des Geschmacks des Absoluten im Relativen auf sie warten würden.

Eine angestrengte Weiterentwicklung auf der relativen Ebene als Ausdruck eines überhöhten Ideals des Erwachens.

Paradox ist spannend

Wie gesagt, das Paradoxe nebeneinander von Relativem und Absolutem, Nicht-Tun und Tun, Hingabe und Entschlossenheit, Nicht-Wissen und glasklarem begrifflichem Verstehen ist für mich ein wunderbares Koan. Hier eröffnet sich mir eine Meta-Absolutheit, welche sowohl alle relativen, als auch die absolute Perspektive einschließt und von einer höheren Warte aus betrachten kann. Nur eine einzige Antwort auf die Frage „Was ist Wahrheit?“ parat zu haben, ist doch ein bisschen langweilig oder?

Oder aber wir lassen die Konzepte „relativ“ und „absolut“, „Weitung“, „Klarheit“, „Erwachen“, „Bewusstsein“ und „Bewusstheit“ alle restlos fallen. Dann landen wir in der spannenden Stille unfassbarer Leere, die wir vermutlich alle lieben. Ja, hier ist alles vollkommen! Aber wieso sollte es nicht noch vollkommener kommen?! Ich würde sagen: Es gibt immer mehr Klarheit zu entdecken, gerade wenn wir aufhören klarer werden zu wollen.