Innehalten im Rachedrang

erschienen im Pfarreiblatt Dekanat Zug Nr. 33 August 2014  (hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redakteurin Ruth Eberle - hier geht es zur Website des Pfarreiblattes)


Dieser Artikel ist die gekürzte und überarbeitete Version eines Blogbeitrags von Torsten auf seinem Connenction-Blog. Die ausführlichere Version findet sich hier.

Die neusten Entwicklungen im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erlebe ich als herzzerreissend schmerzlich. Drei israelische Jugendliche wurden entführt und kaltblütig umgebracht. Entsetzen und der Schmerz der Angehörigen und anderer Israelis sind wohl kaum zu ermessen. Die Wut auf die Ausführenden solcher Gräueltaten ist zunächst verständlich. Der archaische Anteil unserer menschlichen Psyche reagiert auf solchen Schmerz rasch mit Gedanken an gewalttätige Rache.

Noch schmerzhafter ist, dass es in Nahost nicht bei Rache-Gedanken bleibt. Tatsächlich gab es grausame Vergeltungsschläge. Die lösen dann rasch die typische Spirale von Gewalt und Gegengewalt aus. In diesen Tagen schraubt sie sich wieder mächtig in die Höhe. Beide Parteien gehen nach demselben primitiven Prinzip vor: Rache.

Von wegen faire Vergeltung. Mit Zahlen von Todesopfern zu hantieren ist eine heikle Sache, da sie den dahinter liegenden Schmerz der Betroffenen mit kühler Statistik ausblenden. Doch die nackten Ziffern haben in diesem Konflikt eine Aussagekraft, die man nicht ignorieren kann. Die Unverhältnismässigkeit der Gewaltanwendung, die Palästina trifft, scheint für mich erschreckend offensichtlich. Erst dadurch wurde mir klar: Das alttestamtentarische Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip dient tatsächlich als intelligente Abmilderung ausufernder archaischer Blutrache. Auf der Ebene von Vergeltung bringt dies immerhin eine gewisse Fairness: Schlägst Du mir einen Zahn aus, darf ich Dir auch einen ausschlagen. Aber wirklich nur einen! Wenn schon auf Vergeltung nicht verzichtet wird, wäre es doch wünschenswert, sich wenigstens an dieses biblische Prinzip zu halten! Das würde die Gewalt um vieles mindern.

Vergeltungsprinzip grundsätzlich hinterfragen. Eine nachhaltige Befriedung der Gewalt ist erst in Sicht, wenn das Vergeltungsprinzip grundsätzlich hinterfragt und auf Racheakte verzichtet wird. Die Gestalt Jesu im neuen Testament bietet genau dieses andere Modell: «Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin.» Damit lädt Jesus zu einem radikalen Innehalten im Rachereflex ein. Das bedeutet nicht, dass Gewaltverzicht immer die Lösung ist. Kommt Gewaltlosigkeit nicht aus innerer Überzeugung, sondern ist nur äusserlich verordnet, wird sie nicht nachhaltig wirken. Doch wenn rachsüchtige Vergeltung als unvermeidliche Lösungsstrategie dargestellt wird, so zeigt Jesus hier eine andere, reifere Wahlmöglichkeit auf.


Im Racheimpuls innezuhalten ist wahrlich keine Kleinigkeit. Denn damit verzichten wir auf Verteidigung und Gegenwehr. Sich nicht zu wehren, bedeutet die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit unseres Seins als körperliches und soziales Wesen zuzulassen. Wir gehen das Risiko ein, dass unsere Identität als Körper und unsere erweiterten Identitäten mit Partnerschaft und Familie ausgelöscht werden. Das ist die direkte Begegnung mit Todesangst und Verlustschmerz. Um trotz Todesbedrohung innezuhalten, braucht es die Bereitwilligkeit, den Schmerz, der den Racheimpuls antreibt, unmittelbar zu spüren. Schrecken. Trauer. Hilflosigkeit. Verzweiflung. Das sind tiefere Schichten brennender Gefühle, die wir gewöhnlich durch das Ausagieren des Zornes oberflächlich entladen oder kontrollieren wollen. Solches unmittelbare Fühlen ist schon in eher harmlosen Alltagssituationen eine Herausforderung: Unser Chef stutzt uns zurecht. Unser Nachbar will uns vervollkommnen. Unser Lebenspartner hat schon wieder etwas an uns auszusetzen. Blitzschnell taucht ein Racheimpuls auf. Als archaische Überlebensstrategie ist das ganz natürlich. Wir alle verfügen über das Stammhirn eines Alligators als einen Teil unseres dreiteiligen Gehirns. Das hat einen Beissreflex und schlägt gerne blitzschnell um sich, wenn es sich bedroht fühlt. Meist mildert unser sozialeres Säugetiergehirn den Impuls ab. Es weiss, dass wir uns auch anpassen müssen, wenn wir in der Herde überleben wollen. Wir bleiben freundlich und zugewandt. Unsere Großhirnrinde korrigiert auch mit gedanklichen Kommentaren: «Das kannst du jetzt nicht so einfach rauslassen.» Oft finden wütende Racheimpulse dann über einen Umweg doch ihren Ausdruck: Wir sind beleidigt. Wir zürnen heimlich. Wir schmollen und grollen. Meist in der Hoffnung, der Andere möge dadurch doch endlich seine Schuld einsehen und sich anders verhalten.

Alchemie des Schmerzes.
 Doch es gibt auch die Möglichkeit, den Rachegedanken – so normal ihr Auftreten auch ist - nicht zwanghaft zu folgen. Dann eröffnet sich eine mystische Alchemie. Wir erfahren, wie ein Innehalten in Wut, Schmerz und Angst uns erstaunlicherweise zu innerem Frieden durchbrechen lassen kann. Das ist keine Zauberei, sondern eine Sache psychologisch-spiritueller Reife und direktem Erleben. Es ist möglich, in mitten von Trauer und Verzweiflung süsse, transzendente Liebe zu erspüren. Es ist möglich, durch das freie Zulassen von Wut zu gelassener Kraft und liebevoller Klarheit zu finden. Es ist möglich, Angst unmittelbar zu erleben und durch sie hindurch zu allumfassendem Vertrauen in die Unberechenbarkeit des Lebens zu erwachen. Durch solche «innere Alchemie» weitet sich unser Identitätsgefühl von einem um sein Leben fürchtenden kleinen Ich zum großen ICH-ICH des ewigen Seins. Von dort aus ist es ganz natürlich, ohne die schädlichen Auswirkungen von Schuld- und Vergeltungsgedanken zu leben und zu handeln. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit all den Wellen von heftigen Gefühlen, die in meinem Leben aufgetaucht sind. Zugleich weiss ich nicht, wie ich reagieren würde, wenn – wie in Nahost - mir nahestehende Menschen willkürlich von Fremden entführt und getötet oder durch ihre Bomben zerfetzt würden. Würde in mir trotz solcher extremen Umstände die Bereitwilligkeit zum Innehalten wach bleiben? Würde ich etwaige Vergeltungsimpulse spüren, ohne sie zerstörerisch auszuleben? Wäre die Erkenntnis meiner wahren Natur als stilles, liebevolles Gewahrsein immer noch derart präsent, dass sie archaische Rachegelüste ins Leere auslaufen lässt? Ich weiss es nicht. Doch ich spüre die Kraft, dass es so sein könnte.

Innere Friedensförderung. Manchmal gibt es berührende, ganz konkrete Beispiele von Menschen, die mitten im Feuer von Gewalt und Krieg leben und friedvoll bleiben: Zum Beispiel der Palästinenser Ismael Khatib. Sein zwölfjähriger Sohn wurde im Flüchtlingslager Dschenin auf tragische Weise von israelischen Soldaten erschossen. Statt Racheimpulsen nachzugeben, erklärte sich Khatib dazu bereit, dass die Organe seines Sohnes auch an israelische Kinder als Organspenden weitergegeben werden durften. Damit löste er eine Welle von Erstaunen, Betroffenheit und Dankbarkeit bei den Israelis aus. Vier israelische Kinder leben heute mit den Organen seines getöteten Sohnes. Befragt ob er glaube, dass seine Geste hilft, dem Frieden näher zu kommen, antwortete er: «Ich hoffe es. Die Organspende war für mich eine grössere Tat, als wenn ich als Selbstmordattentäter nach Israel gegangen wäre.» Solche Taten machen deutlich was Mahatma Ghandi schon vor 70 Jahren sagte: «Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg.»

Torsten Brügge


Torsten Brügge ist spiritueller Lehrer, Autor u.a. des Buches «Besser als Glück. Wege zu einem erfüllten Leben».