Terroranschlag in Berlin - Innere Sicherheit in Zeiten der Unsicherheit

Nach dem Terroranschlag in Berlin scheint für viele klar: Wir müssen uns schützen. Doch sollen wir uns dafür verschließen? Ganz und gar nicht. Es gibt sogar die Möglichkeit, sich noch weiter zu öffnen – nach innen, in eine spirituelle Freiheit hinein. Erst aus diesem Raum heraus werden sinnvolle Maßnahmen für Frieden – auch im Außen – möglich.

Von Torsten Brügge und Padma Wolff

Im Auge des Sturms

Der Terror ist näher gekommen: Bis nach Berlin! Selbst wenn wir persönlich vielleicht nur die Bilder in den Medien sehen, wühlen sie vieles ins uns auf: Entsetzen über die Brutalität der Gewalt, Empörung, dass Menschen anderen Menschen solche Grausamkeit antun, hilflose Verzweiflung, dass so etwas geschieht und wieder geschehen könnte, mitfühlende Trauer mit denjenigen, die bei einem solchen Ereignis geliebte Menschen verloren haben. Mit denjenigen, die Verwundung, Schmerzen, vielleicht eine bleibende Behinderung erleiden müssen.

Es ist nur natürlich, dass wir erschüttert und betroffen sind. Gedanken werden laut: „Verdammt, warum muss so etwas passieren?! Dem Täter sollte man dasselbe antun oder Schlimmeres! Was wird noch alles Schreckliches geschehen? Es könnte bald auch mich oder mir nah stehende Personen treffen. Es ist herzzerreißend, das miterleben zu müssen. Wieso ist das Leben so umbarmherzig?“ All die Wut, die Angst, der Schmerz gehören zu uns. Sie brauchen Achtung und Raum. Sie brauchen Anteilnahme und Mitgefühl – in uns allen.

Jenseits von Todesangst

Die Gefühlserschütterung trägt aber auch ein „spirituelles Potential“ in sich. Meist erkennen wir es erst, wenn sich die stärksten Emotionen gelegt haben. Doch Befreiung und Stille können sich auch mitten im Chaos der Ereignisse eröffnen. So wie es im Auge eines Sturms einen ruhigen Platz gibt.

Die körperliche Bedrohung und der jähe Tod von Menschen führt uns unsere eigene Sterblichkeit direkt vor Augen. Es ist eine Konfrontation mit elementarer Vergänglichkeit. Was uns sonst so selbstverständlich erscheint, der Fortbestand unseres körperlichen Daseins, wird als äußerst zerbrechlich bloßgelegt. Jederzeit kann unser Leib verwundet werden. Jederzeit kann der Tod uns holen. Jederzeit! Überall!

Sterblichkeit vor Augen geführt zu bekommen, löst oft Wellen von Angst aus. Die wesentliche Frage ist: Wie begegnen wir dieser Angst? Es gibt zwei Möglichkeiten, die mit unserer Haltung dem Leben gegenüber zu tun haben. Die erste: Wenn wir um jeden Preis überleben wollen, müssen wir mit ständiger Kontrolle zahlen. Wir schalten auf Alarmbereitschaft. Wir sind stets auf der Hut. Holen oft schon zum Präventivschlag aus. Wir wittern Gefahr hinter jeder Ecke. In Katastrophenfantasien spielen wir eine mögliche Zukunft durch, um der Gefahr Herr zu werden. Oder wir bunkern uns in Vermeidungsverhalten ein. Wir verzichten auf alles, was vielleicht doch ein Risiko bergen könnte.

Aber mal ehrlich: Am Ende werden wir dem Tod sowieso nicht entkommen. Wir können höchstens versuchen, die Angst davor zu vermeiden. Na gut, vielleicht noch den Tod so lange wie möglich aufzuschieben. Doch ob Kontrollverhalten dafür ein wirklich sinnvolles Vorgehen ist, sei noch dahingestellt.

Den Schrecken wirklich spüren

Die zweite Möglichkeit, auf den Terror zu reagieren: Wir können den Schrecken unmittelbar erleben. Ihn einfach mit offenem Herzen spüren. Das ist keine Kleinigkeit. Es erfordert den Mut, Todesangst zuzulassen, ohne sie zu verdrängen und ohne uns aus ihr retten zu wollen. Wir öffnen uns dem inneren Zittern. Mit dem Verzicht, den Denkprozessen zu folgen, die vorgeben, uns vor Vernichtung schützen zu können. Angst auf diese Weise durch uns fließen zu lassen, ohne das Geringste mit ihr zu machen, offenbart eine überraschende Entdeckung: Sogar Todesangst ist nur eine Welle von Energie, die aufwallt und sich wieder legt. Wird sie frei ge- und durchspürt, erleben wir sie als pure, geradezu freudvolle Lebensenergie. Darunter offenbart sich tiefe innere Ruhe. Sie ist auf friedvolle Weise einverstanden mit sämtlichen Facetten von Vergänglichkeit und Tod. Daraus – und eigentlich erst dann – erwächst die volle Bejahung des Lebens mit all seinen Unwägbarkeiten. Erst dann sind wir frei zu sterben und wirklich frei, voll zu leben. Tatsächlich wird uns die Kostbarkeit der Lebendigkeit umso bewusster, je mehr wir ihre Endlichkeit willkommen heißen.

Liebe bleibt

Terror-Ereignisse lösen auch Trauer aus. Sie signalisiert den Verlust von uns nahestehenden Menschen. Hier wird uns bewusst, wie vergänglich die Nähe ist, die wir mit unseren Liebsten teilen. Partner, Freunde, Familien – mitglieder, unsere Kinder – sie alle können uns jederzeit entrissen werden. Gedanken daran lösen Verzweiflung aus. Unser Herz bricht. Die Seele brennt.

Es ist total natürlich, uns gegen den Schmerz zu wehren. Am liebsten würden wir den geliebten Menschen, den wir verloren haben, wieder herzaubern. Alles wieder so haben, wie es zuvor war. Wir hadern mit dem Schicksalsschlag. Wir verschließen unser Herz für den scheinbar unerträglichen Schmerz. Das hat jedoch Folgen: Wir stecken im Widerstand fest. Im seelischen Weh liegt wiederum eine Chance zu weiterer Entfaltung. Unsere Lehrerin Gangaji sagt: „Wenn du dein Herz wirklich brechen lässt, bricht es nur noch weiter auf.“ Dieser mystische Verwandlungsprozess setzt ein, sobald der pure Verlustschmerz ganz zu- und durchgelassen wird. Das meint, ihn still zu spüren. Ihn brennen zu lassen. Oft gewinnt er zunächst an Intensität. Zugleich fühlt es sich schon viel friedlicher an, nicht mehr dagegen zu kämpfen. Im Zulassen schmecken wir die heilsame Bittersüße des Schmerzes. Schließlich sinken wir hindurch zu einem umfassenden Frieden, welcher sogar das heftigste Herzweh liebevoll halten und – in seiner eigenen Zeit – schmelzen lassen kann. Dann zeigt sich die Liebe, die bleibt – auch wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist. Eine Liebe, die sogar über die persönlichen Beziehungen hinaus als Grundgeschmack des Seins auf alle ausstrahlt – einschließlich der Terroristen.

Vom „Gegen“ zum „Für“

Die drastischste Emotion in der Konfrontation mit Terror ist Wut. Wut ist eine Gegenbewegung. Sie will den Angriff abwehren. Auch wenn er schon geschehen ist, proben wir innerlich, wie man sich doch hätte wehren können oder es in Zukunft könnte. Die Wut will sich auch am Täter rächen und weitere Gewalt unterbinden. Diese archaische Energie tragen wir alle in uns. Manchmal fühlt sie sich mörderisch an. Wir könnten derart hart zurückschlagen, dass wir unseren Gegner vernichten. Es wäre töricht, das mit gekünstelter Friedfertigkeit zu überspielen. Doch den Groll mit körperlicher oder sprachlicher Gewalttätigkeit blind auszuleben, wirkt sich zerstörerisch aus. Es befeuert nur weitere Gewaltspiralen!

Auch hier gibt es spirituelle Essenz zu entdecken: Wut ist Kraft. Das erfahren wir, wenn wir sie weder unterdrücken noch in Beschuldigung oder Gewalttätigkeit ausagieren. Dann schenkt sie uns Energie, an die Ursachen des Leidens konstruktiv heranzugehen. Dabei findet sie eine neue Ausrichtung. Nicht mehr gegen andere Menschen, nicht gegen andere Gruppen, nicht mal nur gegen das „Böse“.

Transformierte Wut mündet in eine beherzte Entschlossenheit für neue Perspektiven, für weises Handeln. Sie stärkt eine engagierte „Für-Haltung“. Für Frieden. Für Freiheit. Für Gerechtigkeit. Für Sicherheit. Für konstruktive und nachhaltige Lösungen. Füreinander.

Ursachenforschung aus einem stillen Geist

Erst aus der Gelassenheit, die wir in all diesem innerlichen Zulassen entdecken, wird es uns möglich, auch die äußeren Aspekte des Geschehens klar zu reflektieren.

An dieser Stelle können wir die wichtigste Fragestellung nur andeuten: Was lässt Menschen so verzweifeln, dass sie Trost und Sinn in extremistischen Ideologien suchen, die sie schließlich derart radikalisieren? Wir können – und müssen – auch die kollektiven Aspekte terroristischer Gewalt hinterfragen: Warum gibt es in islamistischen Gruppen einen derart mörderischen Hass auf „den Westen“? Welchen Anteil haben fundamentalistische Auswüchse der Religion oder die Machtverhältnisse in den jeweiligen Kulturen oder hiesigen Parallel – gesellschaften daran? In welchem Maß spielt dabei eine Demütigung der islamischen Welt durch westlichen Missbrauch von Militär- und Wirtschaftsmacht eine Rolle? Was davon sind Folgen der von NATO-Staaten angefachten illegalen Kriege und Regime-Wechsel, die große Teile des Nahen und Mittleren Osten in Schutt und Asche gelegt haben? Führen solche Destabilisierungen von zum Großteil traditionell- religiös geprägten Gesellschaften nicht fast zwangsläufig zu einer Regression in archaische Gewalt?

Und wie steht es mit der Ungerechtigkeit von Wohlstandsverteilung: zum einen dem globalen Nord-Südgefälle, zum anderen der innerhalb unserer Gesellschaften aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich.

Die Terroranschläge sind auch Alarmglocken! Sie mahnen uns zu befried(ig)enden Lösungen. Ein solches Verständnis für Entstehungsgründe des Terrors stellt keinerlei Rechtfertigung für die Taten an sich dar. Doch ist es unerlässlich, um auf weite Sicht das universelle Gemeinwohl zu fördern und damit dem Terror die Basis zu entziehen. Solche Reflexion kann am klarsten von Menschen geleistet werden, die sich auch mit einer spirituellen Beobachterhaltung vertraut machen. Innere Stille befähigt zu umfassendem multiperspektivischem Sehen. Sie kann sich ohne spaltende Parteinahme in alle Seiten einfühlen. Das bahnt neue Wege für nachhaltige Lösungen, die darauf zielen, allen Wesen ein Leben in Frieden und Harmonie zu eröffnen

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Padma und Torsten sind seit Ende der 90er Jahre als spirituelle Lehrer und Autoren aktiv. Seit 2010 bieten sie Kurse in Integraler Tiefenspiritualität und eine Ausbildung zum psychologisch-spirituellen Begleiter in ihrer Bodhisattva-Schule an.