#metoo: Neue Männer braucht das Land – immer noch!

Der Wunsch nach Kontakt und Nähe ist beim Zusammensein von Menschen ein natürliches Bedürfnis – doch dessen Erfüllung beglückt uns nur eben genau dann, wenn es alle Beteiligten wollen. Das gilt besonders für den Bereich der Sexualität. Unter dem Stichwort #metoo kommt seit Oktober in den sozialen Medien ein ungeheures Maß an sexuellen Übergriffen – besonders von Männern auf Frauen – ans Licht der Öffentlichkeit und erzeugt eine Welle der Empörung. Was läuft da falsch in unserem Umgang miteinander? Die Psychologin und spirituelle Lehrerin Padma Wolff hat sich die Diskussion näher angeschaut und zeigt Wege auf, wie wir gewaltfrei und empathisch miteinander umgehen können.

Hier sitze ich vor meiner Facebook-Seite im Jahr 2017 in einem der – jedenfalls nach herkömmlicher Meinung – aufgeklärtesten, meinungsfreisten und sichersten Länder der Welt. Ich zögere, „#metoo“ zu posten – vor allem aus Bedenken bezüglich eigener Scham und Furcht davor, im Diskurs um das Thema als ‚Betroffene’ noch ernst genommen zu werden. Schließlich überwiegt bei mir die Entscheidung für die Solidarität mit denen, die es noch viel schwerer haben – und der Entschluss, mich nicht von Scham und Furcht bestimmen zu lassen.

Das Kürzel „#metoo“ ist Teil einer weltweit bekannt gewordenen Online-Kampagne. Ausgelöst wurde sie von der Schauspielerin Alyssa Milano. Hollywood-Produzent Harvey Weinstein hatte seine mächtige Position für vielfache sexuelle Übergriffe auf Milano und andere Schauspielerinnen missbraucht. Milano ermutigte daraufhin Menschen, die sexuelle Angriffe oder Belästigungen erfahren haben, dies durch das Kürzel #metoo (ich auch) in sozialen Medien kundzutun. Damit sollte auf die tatsächliche Dimension eines gesellschaftlichen Problems aufmerksam gemacht werden: Sexuelle Übergriffe sind weit verbreitet, und immer noch betreffen sie mehr Frauen als Männer. Die Zahlen über betroffene Männer und Jungen liegen allerdings weitestgehend im Dunkeln, wahrscheinlich ist es für sie noch schwerer, Übergriffe mitzuteilen, werden sie doch immer noch in ihrer Männlichkeit in Frage gestellt, wenn sie verängstigt und verletzt wurden und sich nicht haben wehren können.

Daher hier eine Zwischenbemerkung: Ich spreche im folgenden Text der Einfachheit halber von „Männern und Frauen“. Eine genauere Differenzierung in männliche und weibliche Anteile in uns allen – einschließlich homosexueller, trans- und intergeschlechtlicher Menschen – wäre wünschenswert, würde aber den Rahmen hier sprengen. Warum ich in der Regel von männlichen Übergriffen auf Frauen schreibe, wird im Verlauf klarer.

Zurück zu #meetoo: Beim Lesen einiger Beiträge auf Facebook kamen mir nicht nur zahllose Berichte von Freundinnen, Klientinnen, Schülerinnen – ein paar auch von Männern – in den Sinn, sondern auch eigene Erlebnisse: Zum Beispiel erinnerte ich mich, als zirka Dreizehnjährige in einem Menschengedränge zu stehen. Ein Mann drückte sich von hinten an mich. Erst tat ich es als zufällige Berührung ab. Doch dann spürte ich, dass sie sehr beabsichtigt war. Er rieb seinen Penis an meinem Po und geilte sich daran auf. Ich war geschockt. Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit gelang es mir, mich wegzubewegen.

In meinem Umfeld hat so gut wie jede Frau Ähnliches mehrfach erfahren. Sicherlich gibt es in anderen Kulturen und Subkulturen noch viel mehr und viel schwerwiegendere Fälle. Und dort ist es für die Betroffenen weitaus schwieriger, sich dazu zu äußern. Trotzdem gibt es offenbar auch bei uns echten gesellschaftlichen Gesprächs- und Klärungsbedarf. Auch in unseren spirituellen Kreisen gibt es Betroffene und sogar gelegentlich aktuelle Übergriffe. Zu erläutern, wieso es auch in spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehungen Sinn macht – selbst bei einvernehmlichem Sex – von Missbrauch zu sprechen, würde über den Rahmen dieses Artikels hinausgehen.

Dafür möchte ich hier auf einen älteren Artikel in der Zeitschrift connection spirit 9-10/12 verweisen, der sich ausführlich dieses Themas annimmt (online nachzulesen auf https://www.inmeditas.com/). Hier zu diesem Aspekt nur kurz: Die Bezeichnung als Missbrauch trifft natürlich umso mehr zu, je stärker das Machtgefälle ist und je unfehlbarer der Guru zu sein scheint, bzw. je weniger dieser sich auf eine Ebene gleichrangiger Beziehung „hinab“-begibt.

Ursprung und Bedeutung von #metoo

Die aktuelle Welle von Aufdeckungen sexueller Übergriffe kommt zwar aus Hollywood. Manch einer denkt vielleicht: „Ausgerechnet die Reichsten, Schönsten, Privilegiertesten, die sich ‚hochschlafen‘, beschweren sich jetzt über ‚die bösen Männer‘, die das ausnutzen.“

Der Initiatorin geht es aber ausdrücklich um alle Betroffenen. Sie übernahm die Anregung von Tarana Burke, einer Sozialarbeiterin, die selbst sexuelle Gewalt erlitten hatte. Bei der Verarbeitung dieses Traumas hatte Burke es selbst als enorm heilsam erfahren, als jemand zu ihr sagte, „me too“, im Sinne von: „Ich auch. Ich habe auch Ähnliches erlebt! Du bist nicht allein damit, ich kann dich verstehen.“

Später arbeitete Burke in Krisen-Zentren für vergewaltigte farbige Frauen. Dort gab sie diesen Begriff “me too“ als Ausdruck der Anteilnahme im Rahmen von “empowerment through empathy” (Rückenstärkung durch Empathie) weiter. Genau die beiden Wörter „ich auch“ hebt ebenso die Sozialforscherin Brené Brown als eine der unterstützendsten Ausdrucksformen einfühlsamen Kontaktes hervor. Kaum vorstellbar, wie einsam und verloren Menschen sind, die niemandem davon erzählen können, dass ihnen sexuelle Gewalt widerfahren ist, die nicht ernst genommen oder gar selbst beschuldigt und von ihrer Familie, Gemeinde, Gesellschaft ausgestoßen werden! Bereits in zwei so einfachen Worten wie „ich auch“ liegt mitfühlende Verbindung und heilsames Potential.

Anteilnehmende Worte wie „ich auch“ helfen uns, die Scham zu überwinden, uns herauszuwagen und mitzuteilen. Selbst bei mir fand ich noch einen Anflug von Beschämung, über solche Vorfälle öffentlich zu sprechen. Eigentlich verrückt: Wer sollte sich hier schämen? Aber nach wie vor scheint der vermeintliche Makel eher an derjenigen hängenzubleiben, die belästigt wurde, als an demjenigen, der übergriffig war – selbst in unserer aufgeklärten, sexuell befreiten Kultur.

„Spirituelle Abwehr“

Ich fürchtete auch, als selbst „Betroffene“ nicht mehr ernst genommen zu werden. Denn disqualifizierende Bezeichnungen als „verletzte Frau, die ihren Männerhass abreagiert“ kannte ich als abwehrende Reaktion auf jegliche Kritik an sexuell bedrängendem Verhalten. Zudem wird eine solche eigene Betroffenheit in spirituellen Kreisen schnell gegen die Betroffene gewendet, im Sinne von: „Das hat sie doch selber angezogen oder kreiert.“ Oder zumindest: „Sie erzählt eine Opfergeschichte. Die sollte sie durchschauen und transzendieren.“

Kommen solche Sätze als sofortige Reaktion, ohne zuvor offen für das Erleben der angegriffenen Person zu sein, macht mich das äußerst skeptisch. Hört da jemand wirklich mit offenem Herzen zu? Ist da Raum dafür, zunächst einmal Entsetzen und Schmerz einfach zu fühlen? Oder sind solche Sätze Ausdruck einer Abwehr, um Betroffenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen? Hinzu kommt in unseren spirituellen Kreisen – als sinnvolle Gegenbewegung zur Dominanz des Mainstream-Glaubens an materielle äußere Verursachung –, dass wir uns vor allem auf inneres Erleben und Eigenverantwortung fokussieren. Werden dabei aber alle äußeren Einflüsse komplett verleugnet, sind wir wieder auf einem Auge blind und nehmen die Komplexität der Wirklichkeit nur unzureichend wahr.

Dabei kann es zu extremen Verzerrungen kommen, wenn wir nur das Opfer betrachten und den Angriff quasi ihm allein zuschreiben („das hast du angezogen“), als gäbe es keine Außeneinwirkung. Ebenso gehören auch die Bedingungen und Strukturen des Systems, in dem wir leben – familiär, aber auch gesamtgesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und sozial – zur Gesamtheit des Lebens dazu. Sie beeinflussen es maßgeblich.

Opfer und Täter

Klar: Jedes Opfer sollte achtsam dafür bleiben, wie es zu der Situation kommen konnte – und wo und wann es selbst zum Täter wird. Zumindest sich selbst gegenüber ist dies wichtig, wenn die Opfergeschichte und die entsprechenden Bilder endlos re-traumatisierend und ungelöst innerlich wieder abgespielt werden und daraus eine einschränkende Opfer-Identität entsteht. Aber sogar nach außen kann ein Opfer zum Täter werden, wenn sich eine Leiden verlängernde, anklagende oder gar subtil bis offen rachsüchtige Haltung über ein angemessenes Maß und einen gesunden Zeitraum hinaus fortsetzt. Und: Ja, Betroffene sollten sich auf stärkende und liebevolle Weise fragen, was sie selbst zu der Situation beigetragen haben könnten und wie sie sich fortan heilsam erleben und verhalten können. In diesem Sinne bin ich auch gegen jegliche strafende Dämonisierung von Tätern, da niemand nur „schlecht“ oder „böse“ ist. Das wäre destruktiv, einseitig und wiederum eigene Täterschaft, mit der nun die Täter zu Opfern gemacht würden.

Aber: Wenn wir dem Opfer nicht mitfühlend und wohlwollend zugestehen, sich zunächst einmal verletzt zu fühlen, setzen wir auf geradezu perfide Weise die alten unterdrückenden „selbst schuld“-Zuschreibungen fort – jetzt unter diesem schönen spirituell verklärenden Deckmäntelchen. Damit würden weiterhin Opfer davon abgehalten, Übergriffe, Missbrauch und Vergewaltigungen anzuzeigen, aus Furcht davor, dass ihnen nicht geglaubt wird und es keine Konsequenzen oder sogar für sie selbst negative Folgen haben wird.

Wir nehmen damit auch dem Täter die Chance, durch echte Betroffenheit zu lernen. Möglicherweise könnte er dabei ein eigenes Trauma heilen, was in der Regel einer „Täterkarriere“ zugrunde liegt. Vielleicht könnten wir sogar strukturelle oder systemische Missstände, wie die später noch anzusprechenden, beheben. Derartige Umstände bilden oft Grundlagen und Rahmenverhältnisse für Gewalttaten und machen somit beide, Opfer und Täter, zu Opfern.

Einfühlung und Verständigung sind oft schwierig

In meinen von der #metoo-Aktion angeregten Gesprächen der letzten Tage habe ich den Eindruck gewonnen, es könnte einen Unterschied in unserer Welt bewirken, wenn möglichst viele Menschen möglichst erlebensnah mitteilen könnten, was sie an sexuellen Belästigungen und Übergriffen erlebt haben. Oder einfach nur sicht-, hör-, spürbar werden lassen, wie viele wirklich betroffen sind. Denn das scheint doch erstaunlich vielen noch gar nicht so klar zu sein, wie ich es nach all den eigenen und mir mitgeteilten Erfahrungen erwartet hätte.

Oft habe ich mich gewundert, auf welches Unverständnis es bei etlichen Männern stößt, wenn Frauen auf sexistische oder sexualisierende Ausdrucks- und Verhaltensweisen aufgebracht reagieren. Umso mehr noch, wenn das dann andere abtun mit „Ach, lass ihn doch, ist doch nicht so schlimm!“. In Auseinandersetzungen mit einigen sehr wohlwollenden und bewussten Männern schien es hilfreich, wenn ich ihnen möglichst mitfühlbar einige der (ab dem übernächsten Absatz folgenden) Selbstverständlichkeiten erklären konnte, mit denen Frauen leben. Manche der Männer kamen auf die Idee, sich mal vorzustellen, sie selbst würden von einer Frau auf derartige Weise bedrängt oder begrapscht, wie das viele Frauen von Männern erfahren haben.

Die Vorstellung fanden sie recht schockierend. Allerdings ist dabei noch nicht die Tatsache berücksichtigt, dass Frauen in der Regel kleiner und schwächer sind als Männer. Die Bedrohung ist also für sie durch die körperliche Unterlegenheit ganz real stärker. Darum zählt auch das Argument „Warum hat sie sich denn nicht gewehrt?“ nicht: Oft wird Mädchen sogar, zum Beispiel von ihren besorgten Eltern, beigebracht, lieber so zu tun, als ob sie mitmachen oder es ihnen sogar gefiele, einfach, um mit dem Leben davonzukommen.

Wie Frauen sich als sexuell verletzlich wahrnehmen

Männern fällt es verständlicherweise schwer, sich einzufühlen, was es bedeutet, vergewaltigt zu werden. Aber Frauen leben in dem Wissen, dass jemand in ihren Körper eindringen kann. An der empfindlichsten und schambesetztesten Stelle. Auf Grund der meistens gegebenen körperlichen Unterlegenheit auch gegen ihren Willen. Im Extremfall folgt dann auf die Gewalt und seelische Demütigung noch eine lebensgefährliche Krankheit oder eine Schwangerschaft. Das heißt – was sich wiederum wahrscheinlich die wenigsten fühlend klarmachen –, da würde ein Lebewesen in ihr heranwachsen, das aus dieser schmerzhaften Erniedrigung entstanden ist. Neun Monate lang würde es „unter ihrem Herzen“ wachsen, immer größer werden, immer schmerzhafter Raum einnehmen.

Schließlich würde sie bei der Geburt wieder potentiell unter extremen Schmerzen in Lebensgefahr geraten. Und dann lebenslang emotional gebunden für dieses Kind sorgen. Hinzu kommt die gesellschaftliche Ächtung oder zumindest Erschwernis, die in aller Regel noch immer bei den Frauen liegt. Oder aber dieses Lebewesen würde in einer Abtreibung zerschreddert aus ihrem Körper herausoperiert werden. Auch das hat oft weitere körperliche und seelische Folgen.

Ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Problems

Selbst mein Partner hat – zu unser beider Erstaunen – noch mal ein tieferes Verständnis für die Problematik entwickelt, als ich ihm von den vielen Übergriffen auf mich und andere Frauen erzählte. Besonders beeindruckt hat ihn ein kleines Experiment des für Gewaltprävention engagierten Pädagogen Jackson Katz: In seinen Vorträgen beim Militär, in Sportvereinen und an Schulen zieht er auf der Tafel eine vertikale Linie. Links malt er ein Symbol für weiblich, rechts eins für männlich. Dann fragt er zuerst die Männer im Raum: „Was macht ihr ganz alltäglich, um euch vor sexuellen Übergriffen zu schützen?“ … langes Schweigen oder unsicheres Lachen, während die Männer versuchen herauszufinden, was der Trick hinter der Frage sein könnte. Dann sagt vielleicht ein junger Mann: „Ich sehe zu, dass ich nicht ins Gefängnis komme.“ Wieder Lachen. Schließlich gibt einer zu: „Ehrlich gesagt denke ich darüber überhaupt nicht nach; ich mache gar nichts.“

Dann sind die Frauen mit derselben Frage dran. Alle Hände gehen hoch und die linke Hälfte der Tafel ist im Nu voll: „Ich halte meine Schlüssel als potenzielle Waffe. Ich gehe nicht im Dunkeln joggen. Ich schließe alle Fenster, bevor ich schlafen gehe, sogar in heißen Sommernächten. Ich habe meinen Anrufbeantworter von einem Mann besprechen lassen. Ich parke nur in gut beleuchteten Bereichen. Ich trage keine eventuell „aufreizende“ Kleidung. Ich gehe nicht allein in den Wald, auch tagsüber nicht.“ Und viele mehr. Alle Frauen kennen Beispiele davon aus ihrem eigenen täglichen Leben. Oft sind sie erschrocken über deren gänzlich unbemerkte Selbstverständlichkeit.

Dieses Beispiel verdeutlicht die immer noch vorherrschende ungleiche Verteilung dieses gesellschaftlichen Problems in unserem kollektiven Bewusstsein. Es gibt durchaus auch äußerst beklagenswerte umgekehrte Fälle: Ja, es existiert auch Machtmissbrauch, der von Frauen ausgeht, die Männer oder Jungen sexuell ausnutzen, belästigen und schädigen. Es gibt jeweils gleichgeschlechtliche Übergriffe sowie Missbrauch an Kindern jeden Geschlechts. Und es gibt Fälle von extrem ungerechten Falschanschuldigungen gegen Männer. Die Folgen können verheerend sein. Das alles ist auch schlimm.

Und doch: In der deutlichen Mehrzahl sind es anscheinend noch immer Männer, die sexuell bedrängend wirken – oft sogar ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. In diesem Artikel möchte ich vorerst den Fokus hierauf behalten.

Männer leiden auch unter den Missständen

Den Männern, die jetzt glauben, sich verteidigen zu müssen, möchte ich sagen: „Es kann doch auch nicht in eurem Interesse sein, dass die zugrundeliegenden Machtstrukturen und sexuellen Identitäten so fortgesetzt werden, oder?! Ihr leidet doch selbst darunter, wenn ihr nicht auch offen, verletzlich und einfühlsam sein dürft. Diese Atmosphäre der Verschlossenheit wird doch durch all die Vorsicht und Abwehr, mit der Frauen sich vor sexuellen Übergriffen schützen, nur noch weiter verhärtet!“

Sicherlich ist es aufgrund des noch immer vorherrschenden Männerbildes für Männer sowieso schwerer als für Frauen, Unsicherheit, Scham und Verletzlichkeit zuzulassen. Doch das ist die Voraussetzung für offenen Kontakt, echte Nähe, für wirklich nährende Intimität und Liebe, die Grundlage für Glück und gesundes Selbstvertrauen. Auch Jackson Katz, der oben genannte Experte für Gewaltprävention, behauptet, Gewalt gegen Frauen sei kein Frauen-, sondern ein Männerthema. Männer seien nicht nur betroffen, weil sie auch darunter litten, wenn von ihnen geliebte Frauen sexistisch behandelt würden. Das Klima, das Gewalt fördert, sei für sie selbst genauso schädlich.

Dabei geht es ihm gerade NICHT um Schuldzuweisungen, sondern um Verantwortung, die auch oder sogar gerade im Interesse der Männer selbst liege. Es gelte herauszufinden, weshalb manche Männer gewalttätig würden und was sie eigentlich bräuchten. Die Ursachen für die Gewaltausbrüche zu beheben, müsse ein Anliegen aller Männer sein. Es nütze nichts, nur den Opfern zu sagen, sie sollten sich besser schützen, noch helfe es, lediglich die Täter zu verurteilen. Vielmehr hat er in seinem „bystander approach“ konstruktive Ideen entwickelt, bisher unbeteiligte Männer, nämlich gerade die nicht selbst gewalttätigen, mit ins Boot zu holen, um Gewalt zu unterbinden!

Männer und Jungen brauchen Raum und Unterstützung, ihre sexuellen Triebkräfte bewusst und achtsam zu integrieren. Keinesfalls soll es darum gehen, diese nur zu unterdrücken. Auch diese Energien tragen ja zu unser aller Lebendigkeit und Lebensfreude bei. Bitte nicht weniger Kontakt, sondern mehr! Brauchen wir mehr Regeln und Gesetze? Mehr misstrauische Vorsicht im Umgang miteinander und Abstand? Müssen wir Berührung vermeiden? BITTE NICHT! Wir sehen ja jetzt schon, dass es nicht funktioniert: Bald trauen sich Lehrer nicht mehr, ihre Schüler tröstend in den Arm zu nehmen. Davon brauchen wir aber gerade MEHR und nicht weniger!

Die übermäßige Vorsicht bringt ja nichts: Die „bösen Jungs“ sind trotzdem – oder vielleicht erst recht – weiter übergriffig und die „guten Jungs“ halten wohlgemeinten Sicherheitsabstand. Genau die will zum Beispiel Jackson Katz aber in seinem „bystander approach“ einbeziehen: Sie können eingreifen, wenn andere gewalttätig werden oder auch nur abfällige oder sexistische Bemerkungen machen. Denn selbst „harmloses Gerede von Männern unter sich“ trägt dazu bei, eine Atmosphäre und Kultur zu schaffen, in der es leichter zu Übergriffen kommt. Wir brauchen mehr gesunden, liebevollen Körperkontakt, damit wir und vor allem unsere Kinder – Jungen wie Mädchen – ein gesunds Selbstbewusstsein entwickeln können.

Ein Bewusstsein dafür, was liebevoll und nährend ist, was guttut und was nicht. Die Fähigkeit, Grenzen zu erkennen, zu setzen und zu respektieren, wächst mit dem Erfahrungsschatz an liebevollem, haltendem Kontakt. Wie sehr dieser ganz besonders Jungen und Männern fehlt, beklagen Experten in der Jungen- und Männerforschung wie Philip Zimbardo und Warren Farrell. Sie fordern mehr Väter in der Kindererziehung, mehr männliche Erzieher und Lehrer. Das würde beiden wohltun, den Männern und den Jungen.

Die zerstörerische Wirkung von Online-Pornos

Daneben sieht der Physiologie-Lehrer Gary Wilson in jederzeit verfügbaren Videospielen und Online-Pornos eine Überforderung unseres Gehirns, mit der zunehmenden Überstimulation umzugehen. Er verzeichnet eine Zunahme von Realitätsentfremdung, aber auch Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, sexuelle Störungen, Veränderungen sexueller Neigungen hin zu immer extremeren Reizen, soziale Ängstlichkeit und erhöhte Reizbarkeit.

Teufelskreise entstehen durch weitere Flucht aus immer schwerer zugänglichen Außenkontakten in die jederzeit leicht verfügbare virtuelle Welt, die alle Wünsche sofort zu erfüllen scheint. Online-Pornos – stärker noch als frühere Pornofilme – entfalten immer höheres Suchtpotential, was nach immer mehr und extremerer Stimulation verlangt. Betroffene sind bald schon gar nicht mehr für normale sexuelle Reize empfänglich. Sie können im echten Kontakt mit wirklichen Frauen kaum noch erregt werden.

Die Pornos – so Wilson – werden immer schneller, enthemmter und enthalten keinerlei romantische Elemente, geschweige denn Zärtlichkeit, Gespräche oder Abklärung von Einvernehmlichkeit mehr. Auch der ehemalige Porno-Konsument Ran Gavrieli beklagt in seinem TEDx-Talk, dass in den Pornos noch nicht einmal mehr Hände im Spiel sein dürften, damit die Kamera in ihren Nahaufnahmen der Genitalien nicht gestört würde. Er erklärt auch, dass Filme unsere Vorstellungen, sogar Verhaltensweisen und damit unsere Wirklichkeit extrem stark prägen. Kaum vorstellbar, wie zerstörerisch diese Pornos, über die sich die meisten Jugendlichen quasi selbst aufklären, auf ihre Sexualität wirken.

Wie wollen wir leben?

Wollen wir weiter unseren Töchtern verbieten müssen, im Sommer allzu kurze Hosen oder Röcke zu tragen, aus der Angst heraus, dies könnte als Erlaubnis zu sexuellen Übergriffen missdeutet werden? Wollen wir ihnen sogar empfehlen müssen, lieber nicht offenen Herzens zu strahlen, sondern sich vorsichtig zurückzuhalten? Nein! Ich möchte viel lieber, dass alle Wesen frei und ungehindert ihr schönstes, liebevollstes, lebendigstes Selbst sein und leuchten lassen können und dass wir alle dazu beitragen, dafür einen vertrauensvollen Raum zu bieten.

Wir bereichern unsere Welt, wenn wir uns trauen, mit unserer vollsten Lebensfreude in Kontakt zu sein und damit andere anzustecken. Bei der Kommunikation zu #metoo in den sozialen Medien beeindruckt mich die Solidarität unter so vielen Frauen. Doch am meisten freuen mich einige berührte und berührende Kommentare von Männern, die Verantwortlichkeit zeigen. Viele meinen sogar, es sei jetzt an ihnen, etwas an den patriarchalischen Strukturen, die sexistische Gewalt begünstigen, zu ändern. Einer dieser Männer schreibt, wie wichtig es dafür wäre, dass vor allem Jungen und Männer mehr nährende, platonische Berührung erfahren – auch und gerade in körperlichem Kontakt untereinander. Dadurch könnten sie lernen, liebevoll mit sich selbst, miteinander und dann auch mit Frauen umzugehen. Das würde verunsicherten Teenagern den Druck nehmen, immer „männlich und hart“ zu tun. Sie müssten nicht mehr fürchten, ihre zarten Seiten zu zeigen. Sie wären auch nicht mehr mit all ihrem Bedarf an Körperkontakt ausschließlich auf Mädchen angewiesen, die ihrerseits glauben, nur liebenswert zu sein, wenn sie pornoinduzierte Ideale bedienen.

Neue Männer

An dieser Stelle möchte ich mal anerkennen: ES GIBT bereits VIELE TOLLE „NEUE MÄNNER“. Mutige Männer, die es wagen, mit alten Rollen und Identitäten zu brechen, und die neue Wege, Möglichkeiten und Bewusstseinsräume erkunden. Männer, die sich einfühlen und berührbar zeigen. Männer, die sich liebevoll um Kinder kümmern. Männer, die aus einem natürlichen Ethikgefühl heraus sexistisches Abwerten von Frauen, Angrabschen und Schlimmeres nicht nur selbst unterlassen, sondern auch zu verhindern helfen. Männer, die andere Männer dabei unterstützen, sich auf diese Weise zu entwickeln. Männer, die es wagen, wirklich Liebe zu leben, frei und in echtem Kontakt erspürend, was in jedem gegebenen Moment gerade stimmt, was wirklich freudund lustvoll ist – für alle Beteiligten.

Gerade solche neuen Männer könnten für Jungen als Kontaktpersonen und lebendige Vorbilder dienen. Nicht nur einseitige Video- „Helden“ oder kopf- und herzlose Pornostars. Jungen brauchen mehr echte, authentische Männer zum Anfassen, die ihnen auch Raum geben für natürliche, im herkömmlichen Sinne Jungen-typische Erlebens- und Verhaltensweisen, die oft von weiblichen Erziehungspersonen unterdrückt oder zumindest nicht ganz verstanden zu werden scheinen. Vielleicht fehlt es auch gerade an Möglichkeiten, sich darin auf gesunde Weise auszutoben – in einem liebevollen Rahmen, in dem gelernt werden kann, mit wem was geht und was für alle passt. Dabei könnten sich idealerweise alle Aspekte – die wilden, starken und lauten ebenso wie die zarten und einfühlsamen – integrieren und entwickeln dürfen. Frei, natürlich und ganz.

Neue Aufklärung

Es gibt auch schon wunderschöne Ansätze für eine neue Aufklärung. Nicht nur für eine biologische, sondern auch für eine psychologische. Einfühlsam und zugleich unerschrocken und respektvoll. Eine Aufklärung, die auch berücksichtigt, was von wem wie empfunden wird. Die sogar aufklärt, wie wir miteinander sprechen, Einvernehmlichkeit ab – klären oder auch mal eine Ablehnung hinnehmen können. Von all dem wünsche ich uns mehr: dass diese Entwicklungen weitergehen, sich nicht wieder einschüchtern, ablenken oder für überflüssig erklären lassen. In dieser Bewusstseinsentfaltung sind wir alle zusammen! Da gibt es keine Trennung – auch nicht zwischen Opfer und Täter. Dabei ist es genauso wichtig, dass Frauen ebenso bewusst darauf achten, wie sie mit Männern und Jungen umgehen: Auch Frauen wollen schon in ihrem eigensten Interesse, dass blödsinnige Grundannahmen, wie zum Beispiel, dass Männer immer „stark“ sein müssten, nicht fortgesetzt werden. Natürlich sollen sie auch wild, frei und stark sein dürfen – aber eben nicht immer müssen. Auch solche Ansprüche führen zu Brutalitäten, die zu genau den Verzerrungen beitragen, unten denen sie – wir alle – im Endeffekt wieder leiden. Und da wir auf der absoluten Ebene EIN Bewusstsein sind, es ein und dasselbe SEIN ist, das uns lebt, bin ich zuversichtlich, dass wir mitfühlende, friedvolle Wege der Integration finden können. Ich wünsche uns, dass wir alle frei wir selbst sein können, jeweils mit allen Anteilen, Gefühlen, Bedürfnissen – total egal, ob wir sie dann männlich, weiblich, trans oder inter nennen.


Padma Wolff ist Diplom-Psychologin, kam 1995 zum Satsang und wurde von Eli Jaxon-Bear ausgebildet in Leela Therapy. Diese stellt NLP, Hypnotherapie und das Enneagramm in den Dienst des Erwachens. Seit 1998 lebt Padma mit Torsten Brügge in einer Paarbeziehung. Seit 2002 lehren die beiden zunehmend zusammen, gründeten 2007 die »Praxis für Meditation & Selbsterforschung «, 2010 die »Bodhisattva Schule«. 2017 umbenannt in »INMEDITAS Institut für integrale Meditation, Achtsamkeit und Selbsterforschung«. Dort bieten sie Kurse zur Integralen Tiefenspiritualität und Ausbildungen zum psychologisch-spirituellen Begleiter an.