Tun oder Nicht-Tun - Spiritualität als Reiz des Paradoxen

erschienen in der Zeitschrift „Visionen“ im August 2010 (hier veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung des Redakteurs Christian Salvesen)


Dietmar Bittrich sprach mit Torsten Brügge, der in Hamburg eine Bodhisattva-Schule gegründet hat.

Torsten, die meisten Advaita-Lehrer versichern, dass sie keine Lehrer sind. Dass es auch gar nichts zu lehren gebe. Weder Wahrheiten noch Übungen noch Wege. Es gebe ja nicht mal ein Ich, das Wege gehen oder Techniken üben könne. Stimmt das?

Klares Jein. Das Ich-Gefühl, an das wir uns gewöhnt haben, hat tatsächlich illusorischen Charakter. Doch so illusorisch es sein mag, das Leiden daran scheint schmerzlich real. Das Gefängnis mag aus Gedanken gebaut und hundertprozentig eingebildet sein, frei fühlen wir uns trotzdem nicht. Vielmehr fühlen wir uns getrieben von Glaubensmustern und beherrscht von der Unruhe eines umher springenden Geistes. Da kann es eine enorme Erleichterung bedeuten zu hören: Es gibt Möglichkeiten, sich aus dem Gefängnis zu befreien. Und so wird es dann ja auch erlebt: Wir wenden eine Meditationstechnik an, unsere Aufmerksamkeit wird anders fokussiert, der Geist wendet sich ab von der Unruhe der Gedankenketten. Wir entdecken stille, gesammelte Bewusstseinszustände. Womöglich erkunden wir sogar den Ursprung des Ich-Bewusstseins und bekommen Einblicke in das reine Gewahrsein des Absoluten. In diesem Sinne fördert ein „Weg der Übung“ die heilsame Selbst-Erforschung.

Und dann kommt ein Übungsprogramm, und der Stress beginnt...

Das kann passieren. Und zwar immer dann, wenn unsere Ich-Strukturen den „Weg“ für sich vereinnahmen. Das ist leicht zu erkennen: wenn natürliche Disziplin zum Festhalten an Techniken und Traditionen ausartet. Wenn Spiritualität als anstrengendes Unternehmen wahrgenommen wird. Dann erscheint irgendwann der „Weg des Nicht-Tuns“ attraktiv und heilsam. Schluss mit dem Selbstverbesserungsprogramm! Mit den Zielsetzungen! Sogar mit der Meditation! Und uff. Geschafft.

Ist was verkehrt damit?

Überhaupt nicht. „Nicht-Tun“ beschreibt sehr gut die tiefste Ebene unseres Seins. Sie lässt sich als mühelose, ich-lose Präsenz erfahren. Das Nicht-Tun hat nur dann seine Tücken, wenn es zum Konzept gemacht wird. Und das ist oft der Fall: „Na ja, man kann ja eh nichts tun.“ – „Alles geschieht sowieso von alleine.“ – „Ist ja egal, was ich mache.“ Das sind Standardsätze in der Advaita-Szene. Es sind Schlafpillen. Selbst nach dem Erwachen bleiben etliche unerleuchtete Glaubensmuster und Identifikationen aktiv. Mit dergleichen Advaita-Floskeln im Kopf werden sie gar nicht erst angeschaut, sondern mit dem Konzept des Nicht-Tuns zugedeckt: „Klarheit kann ich sowieso nicht reinbringen, mich gibt es ja gar nicht.“ Klappe zu, Affe lebt. Denn der Affengeist ist nicht tot, lediglich vorübergehend betäubt. Non-Dualität dient ihm als Rechtfertigung.

Wie man’s macht, macht man’s verkehrt...

Tatsächlich lässt sich der „wahre Weg“ nicht beschreiben. Überhaupt von „Weg“ zu sprechen, ist schon zuviel des Guten. Es geht um die Entdeckung dessen, was keinen Weg braucht und was niemals weg war. Und doch eröffnet sich die Erkenntnis eher dadurch, dass wir das Paradox von Tun und Nicht-Tun zulassen. Wenn Spiritualität tiefgreifend wirkt, zeigt sie über beide Zugänge das auf, was schon immer frei zugänglich ist. Ramana hatte dafür ein Gleichnis: Um einen Dorn zu entfernen, den man sich in die Fußsohle getreten hat, nimmt man einen zweiten Dorn zur Hilfe. Danach wirft man beide weg. Wenn ein fest sitzender Dorn ein missverstandener Ansatz von spirituellem Tun ist, dann kann echtes Nicht-Tun die Erleichterung bringen. Und umgekehrt. Letztendlich bleibt Nichts zurück.

Was ist denn „echtes Nicht-Tun“? Etwa das, was du in deiner neu gegründeten „Bodhisattva-Schule“ den Schülern einbimst?

Aber hundertprozentig! Das Wort „Schule“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „freie Zeit“, „Müßiggang“, „Nichts-Tun“. Die Bedeutung des Lernens kam später hinzu. Das weist darauf hin, dass es eine Basis der Ruhe und Entspannung geben muss, aus der dann Erkenntnis und Weisheit hervorgehen. Die Kurse der Bodhisattva-Schule schließen diese vermeintliche Widersprüchlichkeit ein. Die Basis der Vermittlung ist das Sich-Gründen in der Mühelosigkeit innerer Stille, die immer schon gegenwärtig ist. Erst auf dieser Basis können wir erkunden, was für die Vertiefung dieser inneren Ruhe hilfreich ist. In einem entspannten Bewusstseinszustand ist Forschen und Lernen pures Vergnügen.

Du sprichst auch von „stiller Vermittlung“. Die findet immer dann statt, wenn du dich nicht vorbereitet hast? Wie im Satsang? Einfach da sein und nichts tun?

Ja, die stille Vermittlung spricht direkt die Ebene echten Nicht-Tuns an. In vielen Vermittlungsarten, die von Ramana Maharshi inspiriert sind, ist das spürbar: Einfach nur mit einem Lehrer und der Gemeinschaft der Teilnehmer zusammen zu sein, offenbart Frieden. Ganz mühelos, ohne dass etwas gesagt oder getan werden müsste. Das ist eine erstaunliche Kraft. Sie eröffnet die Erkenntnis, dass jedes Problem nur Illusion eines Ichs ist, welches es in Wahrheit nicht gibt. Sich in diesem Sehen zu gründen, ist zugleich die Grundlage und das Ziel unserer Kurse. Je mehr wir selbst in Stille gegründet sind, desto wirksamer können wir andere zu eben dieser Tiefe einladen. Auch auf eine solche spirituelle Begleitung zielt die Ausbildung an der Bodhisattva-Schule.

Und du trittst als Lehrer auf?

Mit meiner Lebensgefährtin Padma Wolff, ja. Du magst das Wort „Lehrer“ nicht? Ramana hat es mit einer Pointe beschrieben: „Ein spiritueller Lehrer ist eine Traumfigur, die im Traum des Schülers auftaucht, um ihn so zu erschrecken, dass er zur Wirklichkeit erwacht.“ Und, puff, dann ist auch der Lehrer weg. Es hat ihn nie gegeben. Er hat nichts gelehrt. Es gab keinen Unterrichtsstoff, keine Hilfestellung! Du kennst vielleicht die Formulierung von Eli Jaxon Bear: Ein spirituelles Hilfsmittel ist die virtuelle Medizin für eine eingebildete Krankheit. Wenn sie wirkt, merken wir, dass wir niemals krank waren. Einreden allerdings können wir uns das nicht. Wir mögen noch so oft denken: „Mein Ich ist Illusion, in Wahrheit gibt es das Ich nicht.“ Darin ist immer noch ein illusorisches Ich enthalten, und dieser Gedanke taucht auf in der Erscheinung eines Ich-Bewusstseins.

Wenn das Ich-Bewusstsein eine Erscheinung ist, warum gibt es in deinen Kursen neben spirituellen Themen auch psychologische Ansätze, wie Hypnotherapie und NLP?

Weil psychologische Ansätze oft mit großer Genauigkeit erforschen, wie sich die Ich-Illusion aufbaut, verstärkt und am Leben erhält. Sie beschreiben oft anschaulicher als östliche Weisheitslehren, wie Wahrnehmungs- und Sprachmuster einen Trancezustand schaffen, in dem wir unsere Welt und unser Ich für real halten. Wenn diese Sicht durch eine spirituelle Dimension erweitert wird, bietet sich die Möglichkeit, die Ich-Trance zu durchschauen und sich aus ihr zu befreien. Selbstverbesserung mag zunächst eine oberflächliche Schicht betreffen, in der Tiefe weist sie auf die Entdeckung des Selbst hin.


Padma Wolff und Torsten Brügge begegneten Anfang der 90er Jahre ihren spirituellen Lehrern aus der Tradition des indischen Weisen Sri Ramana Maharshi: Sri Poonjaji, Gangaji und Eli Jaxon-Bear. Seit Ende der 90er bieten sie jeweils allein und gemeinsam Veranstaltungen und Retreats zu spiritueller Selbst-Erforschung in Deutschland und auch international an. Seit 2007 betreiben sie in Hamburg die „Praxis für Meditation und Selbst-Erforschung“, in der sie Gruppen, Einzelsitzungen und Supervision anbieten. Die Angebote der Bodhisattva- Schule und die Ausbildung zum spirituellen Begleiter stellen ab 2010 eine neue Art ihrer Vermittlung von Selbst-Erforschung dar. Info: http://www.bodhisat.de/ Torsten Brügge: Wunschlos glücklich. 219 S., geb., Thes