
Freiheit vom persönlichen Willen
erschienen in der Zeitschrift „Visionen“ im August 2012 (hier veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung des Redakteurs Christian Salvesen)
Torsten Brügge über die Beziehung zwischen Hirnforschung und Mystik
Die Ergebnisse der Hirnforschung relativieren zunehmend grundsätzliche Vorstellungen und Werte des Menschen: Gibt es überhaupt ein Ich und einen freien Willen? Der Hamburger Heilpraktiker, Therapeut und spirituelle Lehrer Torsten Brügge äußert sich dazu in einem Interview mit Dietmar Bittrich.
Seit wann und mit welchem Erkenntnisinteresse beschäftigen Sie sich mit Neurophysiologie?
Ich habe in sozial-psychiatrischer Arbeit eine langjährige Berufserfahrung und auch schon in meinem Psychologiestudium Grundkenntnisse der Neurophysiologie erworben. Intensiver verfolge ich seit ca. vier Jahren die Diskussion über die modernen Neurowissenschaften – in den Massenmedien, aber auch in Fachzeitschriften wie zum Beispiel in „Geist und Gehirn“. An diesem Fachgebiet interessiert mich vor allem, dass sich hier meiner Meinung nach faszinierende Parallelen zwischen tiefen mystischen Erkenntnissen und der harten Wissenschaft der Hirnforschung ergeben.
Welche spirituellen Einsichten folgen daraus?
Psychologie und Philosophie als „weiche“ Disziplinen haben die hohe Relativität subjektiver Erfahrungen längst erkannt. Doch dass sich unsere gesamte Wahrnehmungswelt, inklusive der Materie, auf diese Weise aufbaut, sich als „die Welt in uns“ offenbart und daher einen zutiefst illusionären Charakter hat, erfahren wir vor allem bei tiefen spirituellen Einsichten. Genau dies wird jetzt durch die „harten“ naturwissenschaftlichen Fakten zunehmend bestätigt.
Die klassische scholastische Diskussion über die Freiheit des Menschen bleibt m.E. in einer polaren Ambivalenz stecken. Die einen bejahen persönliche Willensfreiheit und denken, dies wäre die höchstmögliche Freiheit; die anderen verneinen sie, weil sie deren Unechtheit erkennen, und geraten schnell in einen depressiven Nihilismus. Mir geht es hier darum zu zeigen, dass es eine umfassendere Perspektive gibt.
Darin erkennen wir unser gewöhnliches Konstrukt von persönlicher Willensfreiheit als illusionär. Das bedeutet nicht, dass wir das Gefühl der Willensfreiheit nicht empfinden. Doch dieses Gefühl ist eine Täuschung. Gleichzeitig können wir eine höhere Freiheit entdecken, nämlich die „Freiheit vom persönlichen Willen“. Das meint, dass wir nicht davon abhängig sind, welche Erfahrungen unsere Person macht. Die tiefere Ebene unseres wahren Seins ist immer in Frieden, egal, welche Entscheidungen durch unser Ich getroffen werden.
Der freie Wille als Illusion – ist das nun endlich die Synthese von moderner Hirnforschung und uralter Mystik?
Ja und nein. In der Tat gibt es erstaunliche Parallelen, beispielsweise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Hier wird durch die Neurowissenschaften offensichtlich, dass das Gehirn unsere Außenwelt keineswegs „objektiv“ wiedergibt, wie wir das so gerne glauben und wie es sich unserer Selbstwahrnehmung zutiefst eingeprägt hat, sondern dass sich das Gehirn seine Wirklichkeit selbst konstruiert. Im Grunde kann man sagen: Die Welt „da draußen“ spielt sich in unserem Gehirn ab.
Wir haben keinen Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Es wird von neuronalen Prozessen gesteuert, die unserem Bewusstsein verborgen sind – für die wir allerdings nachträglich eine Begründung suchen. Das klassische Experiment dazu stammt von der University of California: Versuchspersonen sollten nach eigenem Gutdünken entscheiden, wann sie eine Bewegung ausführten, etwa den Zeigefinger heben. Parallel wurde ihre Hirnaktivität gemessen. Ergebnis: Noch vor der bewussten Willensentscheidung leitete das Gehirn die Handlung ein! Also nicht die Person entscheidet, sondern etwas in ihr handelt – und anschließend glaubt sie, sich entschieden zu haben. Diesem ersten Experiment sind mittlerweile so viele und so präzise Untersuchungen gefolgt, dass von einem freien Willen im Denken und Handeln keine Rede mehr sein kann. Das Ich-Bewusstsein interpretiert als eigene Entscheidung, was ohne sein Zutun geschehen ist
Handelt also Gott in allem? Oder das Sein? Werden die Neurologen jetzt zu Mystikern?
Unsere gesamte Wahrnehmung hat einen zutiefst illusionären Charakter. Bei tiefen spirituellen Einsichten ist das immer schon erfahren worden. Harte naturwissenschaftliche Fakten bestätigen es jetzt. Im Alltagsbewusstsein kommt es uns so vor, als gebe es unser Ich als eine lokalisierbare Instanz im Kopf, sozusagen als Kommandozentrale der Persönlichkeit. Die Forschungsergebnisse lassen davon nichts übrig. Es gibt keine zentrale Ich-Instanz.
Spirituelle Traditionen wie Zen oder Advaita lehren schon lange, dass die Idee eines Ichs samt freiem Willen eine Illusion ist. Aussagen wie „Es gibt keinen Denker, nur Denken“ oder „Niemand handelt, Handlung geschieht“ bringen das sehr schön zum Ausdruck.
Solche Sätze habe ich immer schon als Argument benutzt, wenn jemand mich zur Verantwortung ziehen wollte. Schön, dass ich jetzt auch naturwissenschaftlich völlig schuldlos bin!
Aus absoluter Perspektive verlieren Moralvorstellungen und Schuldzuweisungen ihre Bedeutung. Erfassen wir innerlich, dass es kein persönliches Ich gibt, machen wir zugleich die unmittelbare Erfahrung des alles verbindenden Einsseins. Daraus ergibt sich ganz natürlich ein Handeln, das durch Frieden und Mitgefühl geprägt ist.
Auf der relativen Ebene hingegen werden wir auf das Konzept der persönlichen Verantwortung nicht verzichten können. Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen werden durch wissenschaftliche Erkenntnisse verändert, scheinen aber weiterhin notwendig, um den sozialen Frieden zu sichern. In der jungen Teildisziplin Neuroethik, einem Zusammenschluss von Natur- und Geisteswissenschaften, werden diese Fragen zurzeit diskutiert.
Wie steht es um den beliebten Begriff „Bewusstsein“? Mystiker, Philosophen und Wissenschaftler waren sich bisher nicht darüber einig, was das ist. Helfen nun die Neurowissenschaftler?
Die spirituellen Traditionen unterscheiden zwischen Bewusstseinsinhalten – also dem sog. Denken, Fühlen und Wahrnehmen – und dem Bewusstsein selber. Mit Letzterem ist eine übergeordnete Ebene gemeint: Der Raum, in dem die Inhalte auftauchen. Er wird zuweilen auch der „Beobachter“ oder das „Zeugenbewusstsein“ genannt. Was die Hirnforschung zurzeit eingehend untersucht, sind die Bewusstseinsinhalte. Sie hat Mittel gefunden, die Verarbeitung dieser Bewusstseinsinhalte im Nervensystem zu beobachten.
Das Phänomen des Bewusstseins an sich bleibt bisher unfassbar. Die Mystiker erforschen das Bewusstsein von innen. Ihr gemeinsames Ergebnis lautet: Wir können das Bewusstsein nicht als fassbares Etwas finden, weil wir es selbst sind. Wenn man intensiv nach etwas sucht und es nicht findet, was lässt sich daraus schließen? Entweder dass es gar nicht existiert. Oder dass man selbst das Gesuchte ist.
Dann bin ich lieber selbst das Gesuchte!
Das Auge kann sich selbst nicht sehen. Das Subjekt kann sich nicht als Objekt erkennen. Das Bewusstsein kann sich selbst nicht sehen; es kann sich nur seiner selbst bewusst sein. Eine der Kernaussagen des Advaita lautet: „Es gibt nur Bewusstsein. Alles, einschließlich unserer selbst, ist Bewusstsein.“ Ein Schüler fragt den Meister: „Wie komme ich ans andere Ufer?“ Der Meister antwortet: „Du bist am anderen Ufer.“
Die Hirnforschung ist jetzt auch an diesem anderen Ufer. Sie fragt nach dem erkennenden und dem zu erkennenden Objekt. Ein Manifest von elf führenden Neurowissenschaftlern erklärt: „In diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen.“ Ich bin zuversichtlich, dass die Wissenschaftler nun selbst einen Zugang zur inneren Bewusstseinsforschung finden.
Sie haben ein Buch dazu veröffentlicht: „Besser als Glück - Wege zu einem erfüllten Leben“
Ja, darin geht es um Bewusstseinsforschung als Selbst-Erforschung. Wir untersuchen die Wesensstruktur von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken, und wir durchschauen ihren illusionären Charakter. Dadurch können wir uns von der Identifikation mit dem Körper, mit den Gefühlen und all den einengenden mentalen Konzepten von uns selbst und der Welt befreien. Wir erkennen die allem zugrundeliegende Essenz: das Bewusstsein selbst. Wenn wir klar sehen, dass das persönliche, von anderen getrennte Ich gar nicht wirklich existiert, entdecken wir auch, dass wir frei sind von Leiden, dass wir schon immer frei waren.
Dürfen wir noch ein paar persönliche Erfahrungen behalten? Zum Beispiel Erinnerungen und Gefühle?
Natürlich. Die Erfahrungsinhalte ändern sich ja nicht. Gedanken, Gefühle, körperliche Empfindungen, auch Schmerz tauchen nach wie vor im Bewusstseinsraum auf. Auch ein Bezug zur Individualität bleibt erhalten. Ich mag immer noch lieber Vollmilchschokolade als Zartbitter und interessiere mich mehr für Hirnforschung als für Rechtswissenschaften. Was sich aber verändert, ist das Gefühl einer persönlichen Identifikation. Ich bin nicht die kleine Person. Ich bin der Raum des Bewusstseins, in dem all diese Erfahrungen auftauchen und wieder verschwinden. Dieser Raum gleicht der unendlichen Weite des Himmels und nicht der Gefängniszelle, in die wir uns mit dem Aufrechterhalten eines persönlichen Ichs einsperren.
Nun sind wir frei und haben am Ende doch wieder einen freien Willen?
Die Freiheit, selbstbestimmt Entscheidungen treffen zu können, ist eine Illusion. Spirituelle Freiheit bedeutet eine offene Haltung, in der nichts vermieden und nichts festgehalten werden muss. Diese Freiheit führt über Trennung und Leiden hinaus. Sie ist vollkommen unabhängig von äußeren Umständen oder inneren Befindlichkeiten. Die Neuronen können verrücktspielen – wir sind jenseits davon. Wir sind das stille Gewahrsein, das allem zugrunde liegt. Das ist die wahre Freiheit, und sie ist grenzenlos
Kontakt/Info: www.satsang-mit-torsten.de Torsten Brügge: Besser als Glück. (Verlag der Ideen, Oktober 2012) Auch über den Autor (www.bodhisat.de) oder den Verlag (www.verlagderideen.de)