Im Anderen MICH sehen

Leseprobe "Im Andern MICH sehen" aus Buchteil Fünf "Fragen und Antworten" aus dem Buch "Besser als Glück" von Torsten Brügge.


Alles wirkliche Leben ist Begegnung, sagt Martin Buber und begegnen kann ich nur einem Du. Wenn es kein Ich gibt, können sich Ich und Du nicht begegnen. Gibt es da nicht einen Widerspruch zwischen dem Alles-ist-Eins und dem Antlitz des anderen, der ja eben als der andere erscheint? Sartre meinte sogar: "Die Hölle, das sind die anderen." Wenn ich aber wahrnehme, dass der andere auch Teil des Ganzen ist, von dem ich ein Teil bin, sind wir dann so eine Art Geschwister?

Die Metapher des Ozeans vereint den vermeintlichen Widerspruch. An der Oberfläche tanzen die Wellen in stetigem Auf und Ab. Hier sehen wir voneinander unterscheidbare Formen. Hier gibt es tatsächlich ein scheinbar getrenntes Ich und Du. Würde man nur diese Oberfläche betrachten, müsste man Martin Buber zustimmen, dass Leben Begegnung zwischen einem Ich und einem Du ist. Sartre spricht mit seiner Aussage "Die Hölle, das sind die Anderen", schon den leidvollen Charakter dieser Begegnungen an. Zunächst gibt es da eine grundsätzliche Trennung von Ich und Du. Das alleine lässt schon das Ich mit einer existenziellen Einsamkeit zurück. Dann ist da noch das Wirrwarr des sozialen Miteinanders. Hier wirken "die Anderen" als verwirrende Verlockung oder Bedrohung. Hier ist Angriff, Missachtung oder Ausstoßung zu befürchten. Das alles kann das Ich schmerzhaft treffen.

Doch unter der Oberflächenschicht des Ozeans ruhen die unendlichen Wassermassen der Tiefe. Hier herrschen ganz andere Verhältnisse. In der Tiefe hebt sich die Trennung der Wellen auf. Es gibt hier kein Wellen-Ich mehr. Nur das alles verbindende SEIN des Wassers.

Zugleich stellt das Wasser auch den Stoff dar, aus dem die Wellen der Oberfläche geformt sind. Die Form der Wellen unterscheidet sich. Doch Wasser ist ihr eigentliches Wesen. An der Oberfläche scheinen die Wellen so etwas wie Geschwister zu sein - Kinder des Ozeans. Zugleich sind sie mehr als das: Spürt eine Welle in ihre eigene Tiefe fühlt sie das Wasser des Ozeans aus dem sie gemacht ist. Je tiefer sie spürt desto mehr vergisst sie sich selbst - ihren Wellenkörper - und weiß sich als die Gesamtheit des Ozeans. Ihr wird auch klar, dass das Wasser dasselbe Wasser in jeder Welle ist. In diesem Sinne sind die Wellen mehr als Geschwister. Sie sind ein einziges verbundenes Sein.

Die Wassermassen der Tiefe sind ich-los und du-los. Deshalb brauchen sie auch keine Begegnung. Der Begriff "Begegnung" macht hier überhaupt keinen Sinn. Denn wie sollte sich etwas begegnen, was überhaupt nie getrennt war! Die indische Philosophie des Advaitas (Nicht-Zweiheit) stellt diese Wahrheit in den Mittelpunkt ihrer Lehre: Aus der Tiefenperspektive ist jede Trennung (Dvaita) pure Illusion. Die letztendliche Wahrheit ist non-dual, vollkommen ungetrennt.

Meine spirituelle Lehrerin Gangaji sagte einmal zu mir: "Ich bin haargenau dasselbe wie du". Ich spürte, was sie sagte. Sie meinte nicht unsere Körper, nicht unsere Persönlichkeiten oder unsere Gefühlswelten. Die sind offensichtlich voneinander verschieden. Doch das Gewahrsein, das durch ihre Augen sieht und das Gewahrsein, dass durch meine Augen - und die Augen jedes Menschen - sieht, ist genau dasselbe Gewahrsein. In einer echten Begegnung, zum Beispiel zwischen einem Schüler und seinem spirituellen Lehrer, sehen sich zwei Wellen an und schauen durch das Gegenüber in die Tiefe des Ozeans. Da sind die Formen der Wellen unwichtig. Es geht um die Essenz, um das Wasser, um das Gewahrsein, das immer eins ist, war und sein wird.

Martin Buber wusste um die Schönheit und Lebendigkeit solcher Begegnungen. In ihnen eröffnet sich die Möglichkeit durch das Antlitz des anderen in die Tiefe des Einsseins zu schauen. Das ist keine Theorie sondern eine lebendige Erfahrung, die auch Teilnehmer meiner Seminare immer wieder berichten. Ich lade diese manchmal ein, die gesamte Gruppe der Anwesenden ganz direkt aus der Haltung innerer Stille anzuschauen. Dann erkennen Sie sehr deutlich das Strahlen der ungetrennten, lebendigen Essenz, die durch jedes Augenpaar leuchtet. Über die vermeintliche Trennung in ein Ich und Du können wir dann gemeinsam herzhaft lachen.

Ende der Leseprobe