Gratwanderung der Gefühllosigkeit

Leseprobe "Gratwanderung der Gefühllosigkeit" aus Buchteil Fünf "Fragen und Antworten" aus dem Buch "Besser als Glück" von Torsten Brügge.


Zeitweise erlebe ich mich in der Meditation als vollkommen gefühllos. Ich spüre kein Leid, nichts Unangenehmes, aber auch keine Freude, keine Glückseligkeit oder Dankbarkeit einfach Nichts. Ist das eine Art von Abstumpfung? Vermeide ich da irgendetwas?

Tatsächlich gibt es Versenkungszustände in denen wir ein fundamentales Leersein erleben. Nicht umsonst wird im Zen-Buddhismus ausdrücklich vom "No-Mind" (Nicht-Geist) gesprochen. Übersetzen wir das in unser westliches Körper-Geist-Seele-Verständnis könnten wir es auch "No-Body. No-Mind. No-Emotion" (Nicht-Körper, Nicht-Geist, Nicht-Gefühl) nennen. Andere Sichtweisen - wie zum Beispiel das Integrale Modell von Ken Wilber - nennen dies die Ebene des Kausal-Körpers. Damit ist das reine, unpersönliche Zeugenbewusstsein gemeint. Es ist vollkommen entleert von jeder vorstellbaren Erfahrung. Ein Koan dazu könnte so lauten: "Was sieht ein Spiegel, der einen anderen Spiegel spiegelt?"

Diese absolute Leere in uns selbst zuzulassen, stellt eine Bedrohung für unsere bisherigen Wahrnehmungsmuster dar. "Ich muss doch irgendetwas fühlen oder empfinden oder denken, sonst existiere ich nicht mehr." Solche Gedanken tauchen kurz vor oder kurz nach dem direkten "Schmecken der Leere" auf. Während dessen erscheint natürlicherweise keinerlei Gedanke - da zeigt sich das pure Nichts in seiner vollen Nicht-Blüte. In der christlichen Mystik spricht Meister Eckhart* es so aus: "Der Glaubende soll so frei werden, dass auch kein Wissen von Gott in ihm mehr existiert". Tatsächlich fördert das Abtauchen unserer Aufmerksamkeit in die absolute Leere, dass wir uns nachhaltiger im unangetasteten Zeugenbewusstsein gründen. Tut sich uns also diese Leere auf, dürfen wir uns erlauben, sie voll und ganz auszuloten. Gedanken wie "Ich sollte mich doch aber freuen, glückselig oder dankbar fühlen" verleiten uns dazu, wieder zur Oberfläche des gewohnten Grübelns aufzusteigen. Wir brauchen ihnen nicht folgen. Wie wäre es, uns vollkommen leer machen zu lassen, so dass selbst der Gedanken "ich erlebe Leere" verschwinden darf?

In Ihrer Frage klingt allerdings auch ein zweiter wichtiger Aspekt an: Manchmal neigen wir dazu, Erfahrungen des Kausal-Körpers - also Erfahrungen von absoluter Leere - zu missbrauchen. Zum Beispiel indem wir die Leere zu einem neuen Ideal verklären und nichts anderes mehr gelten lassen. Dann haften wir am Kausal-Körper an. Auf die Dauer zeigt sich dies als einen Mangel an Herzenswärme, Dankbarkeit, Liebe und Mitgefühl. Wir ziehen uns zurück auf eine unnahbare, kühle Beobachterhaltung. Vielleicht entwickeln wir sogar eine zynische Missachtung für die relative Ebene menschlichen Leidens. Wir verweigern uns der Entwicklung auf eine wahrhaft nonduale Bewusstseinsebene, von der aus wir das All-Eins-Sein nicht nur aus gesichertem Abstand erkennen, sondern liebend erspüren.

Es ist eine Gratwanderung: Das Erkunden der Leere vertieft Selbsterkenntnis. Es kann aber auch in Distanzierung und Abstumpfung abrutschen. Wir sollten Leere nicht als Zufluchtsort missbrauchen, um uns frostig über die Abgründe menschlichen Schmerzes zu erheben. Dass wir ab und zu in diese spirituelle Falle hineintappen, ist zu erwarten. Dafür dass wir nicht in ihr stecken bleiben, ist ein offenes Herz und emotionale Aufrichtigkeit mit uns selbst die beste Garantie.

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